zum Hauptinhalt
Shin Seokho spielt Seoung-mo in Hong Sangsoos „In Water“.

© Jeonwonsa Film Co.

Hong Sangsoo in den Berlinale-Encounters: Unschärfen des Sehens und des Lebens

Hong Sangsoos „In Water“ ist eine Inselmeditation über die Dreharbeiten an einem Film.

Von Till Kadritzke

Jeder Film beginnt mit einer Idee, so die gängige Vorstellung. Ob in Form einer Story, einer Begebenheit oder eines Bildes – am Anfang ist die Inspiration, und aus der ergibt sich ein Exposé, ein Drehbuch, Casting-Entscheidungen, und irgendwann ist man drehfertig.

Beim südkoreanischen Regisseur Hong Sangsoo steht nicht die Idee, sondern der Drehtermin als erstes fest. Für den werden Locations und Darsteller*innen gebucht, alles Weitere wird man sehen. Mit einem Drehbuch arbeitet Hong seit Jahren nicht mehr, die Dialoge schreibt er jeweils morgens, gerade noch genügend Zeit, um die Texte zu lernen. Und seit Corona-Zeiten ist er nicht nur sein eigener Produzent, Komponist und Cutter, sondern übernimmt auch selbst die Kamera. Diese radikale Autonomie erlaubt es Hong, in einem Jahr bis zu drei Filme abzuschließen, die großen Festivals müssen gar nicht um ihn buhlen, springt doch in der Regel für alle ein neuer Hong heraus.

Sein neuester Film „In Water“ ist in seinem Werk, das ansonsten die Variation im Gleichen sucht, ein fast schon riesiger Sprung. Er macht Hongs filmische Praxis so explizit wie noch nie zur filmischen Handlung: Ein junger Regisseur (Shin Seok-ho) möchte einen Kurzfilm drehen und hat dafür zwei alte Schulfreunde gewonnen. Man ist zu dritt auf eine Insel gereist, isst Pizza, sieht sich die steinige Landschaft an, und wartet auf eine Idee.

Schon in Hongs letztem Film „Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“ stand das Vorhaben eines Kurzfilms im Zentrum der Handlung – schon dies war keine intellektuelle Übung auf Meta-Ebenen – sondern eine sinnliche Erfahrung: Als der Film für eine letzte Szene das Schwarzweiß der Haupthandlung in Richtung Farbe verließ, war das ein bisschen, als hätten die Zuschauenden auf einmal das Sehen gelernt.

Das Sehen neu lernen

Bei „In Water“ verlernt das Publikum das Sehen gleichsam oder lernen es neu, denn es ist kurzsichtig. Während des gesamtem Films bleiben die Figuren im unscharfen Bereich der Kamera, wie durch Milchglas aufgenommen. Wenn sie eine gelbe Blume bewundern, die in einer Mauer wächst, dann müssen wir ihnen die Schönheit glauben.

Die Unschärfe ist kein Gimmick, sie passt zur Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten, die Cézanne-Fan Hong immer schon interessiert. Wie Angela Schanelecs Filme lässt sich auch Hongs Werk als Einladung verstehen, über Sehgewohnheiten im Kino nachzudenken. Und wer braucht schon Schärfe für drei Personen, die schweigend aufs Meer blicken, für eine Schauspielerin, die ihre Taekwondo-Künste vorführt, für einen Spaziergang, auf dem über die Existenz von Geistern sinniert wird?

Die Inspiration kommt, wird eine Begebenheit zu einer Idee zu einem Film. Im so traurigen wie beglückenden Ende verschwindet ein Regisseur in der Unschärfe des Ozeans, zu den per Handy eingespielten Klängen eines Songs, und Hong Sang-soo hat wieder mal das Existenzielle aus dem Gewöhnlichen geschält, ohne dass man es groß mitbekommen hätte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false