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Ane (Patricia López Arnaiz) und ihr jüngstes Kind (Sofía Otero).

© Gariza Films, Inicia Films

„20.000 Species of Bees“ bei der Berlinale: Taufe einer Meerjungfrau

Estibaliz Urresola Solaguren erzählt in ihrem Spielfilmdebüt „20.000 Species of Bees“ von einem Kind, das seine wahre Genderidentität leben will. Das Familiendrama läuft im Wettbewerb.

Der Zug fährt über eine Brücke, die zugleich die Grenze zwischen Frankreich und Spanien markiert. Doch für Ane (Patricia López Arnaiz) und ihre drei Kinder fühlt es sich nicht an wie der Übergang in ein anderes Land, denn sie bleiben im Baskenland, wo sie für eine Sommerwoche Anes Mutter besuchen werden.

Diese früh in „20.000 Species of Bees“ gezeigte Fluss-Querungsszene führt in einen vielschichtigen warmherzigen Film, in dem Übergänge und Veränderungen die zentralen Themen sind. Dass sich im Zug nur Anes jüngstes Kind (Sofía Otero) für den Moment des Grenzübertritts interessiert, kommt nicht von ungefähr. Es stößt selbst ständig an eine Grenze, die ihm unverständlich ist, die aber nicht so einfach ignoriert werden kann: die binäre Konstruktion von Gender.

Anders als seine älteren Geschwister fühlte es sich unwohl, in dem ihm zugewiesenen Geschlecht. Den männlichen Namen Aitor lehnt es ab und auch der weniger eindeutige Spitzname Cocó ist nur eine Hilfskonstruktion. Damit kann es zumindest beim Spielen mit den anderen Dorfkindern für eine Weile als Mädchen durchgehen. Wozu auch die langen Haare und die lackierten Fingernägel beitragen.

Doch die Gendergrenzpolizei schläft nicht. Ein Mädchen im rosa Kleid mit „Girls Team“-Aufdruck macht eine Szene in der Mädchenumkleide eines Schwimmbades und der Oma missfällt es, wenn die achtjährige Cocó beim Spaziergang als „Kleine“ angesprochen wird. Als die Rentnerin einmal mit ihrer Tochter über deren Lebensentscheidungen streitet, wird schließlich Cocó zum zentralen Ziel ihrer Kritik: „Du bist zu nachsichtig“, sagt sie. Und: „Setz’ ihm Grenzen!“

Das sieht Ane gar nicht ein. Sie ist der Meinung, dass es keine Jungs- und Mädchensachen gibt, und lässt ihrem Kind, das sie allerdings konstant Aitor nennt, viel Raum zur Entfaltung. Sie selbst durchläuft eine Umbruchphase, denn sie versucht, wieder als Künstlerin Fuß zu fassen, arbeitet an einer Skulptur, um sich für eine Dozentur zu bewerben. Ihre Ehe scheint derweil auf dem absteigenden Ast. Weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, übersieht sie jedoch, dass Cocó sich in existenziellen Turbulenzen befindet. Dass sie ihre vielen Fragen an andere Familienmitglieder richtet, ist bezeichnend. Denn sie weiß, dass Ane dafür gerade kein Ohr hat.

„Warum bin ich so?“, fragt Cocó die Oma. „Wusstest du schon immer, dass du ein Junge bist?“, den Bruder. Die Antworten helfen ihr kaum weiter. Allerdings gibt es in Lourdes (Ane Gabarain), der Schwester der Oma auch eine Figur, die tatsächlich zuhört – etwa wenn Cocó weibliche Grammatikformen für sich verwendet. Wobei das Baskische, das sich im Film mit Spanisch mischt, nicht gendert. Lourdes ist Imkerin und Heilerin, alleinstehend, vielleicht selber queer. Jedenfalls erkennt sie als Einzige, was mit Cocó los ist.

Estibaliz Urresola Solaguren erzählt ihren Debütspielfilm, für den sie auch das Drehbuch schrieb, mit viel Einfühlungsvermögen und fokussiert ihn anders als Hüseyin Tabak und Florian David Fitz kürzlich in der Komödie „Oskars Kleid“ auf das trans Kind und weniger auf die Probleme der Erwachsenen mit dessen Identität. Mit der oft aus der Hand geführten Kamera ist sie stets nah an ihrer Protagonistin, die von Leinwanddebütantin Sofía Otero berührend verkörpert wird.

Die solide Arthouse-Inszenierung spielt mit mehreren Nebenmotiven. Eines davon ist die Taufe eines Jungen, die im Ort ansteht. Was allerdings nie ins Bild gesetzt wird, anders als der Moment, in dem Cocó ihren richtigen Namen erstmals ausspricht und zusammen mit ihrer einzigen Freundin in einen Bergsee steigt, um eine dort treibende Heiligenfigur herauszuziehen. Eine erstaunliche Selbstermächtigung auf Katholisch – wäre Papst Franziskus sicher nicht drauf gekommen.

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