zum Hauptinhalt
French director Nicolas Philibert poses with the "Golden Bear for Best Film" in front of other laureates after the award ceremony of the 73rd Berlinale International Film Festival in Berlin, on February 25, 2023. (Photo by John MACDOUGALL / AFP)

© AFP/JOHN MACDOUGALL

Die Bären-Gala der 73. Berlinale: Dankbare Gesichter, gemischte Gefühle

Mit Gold für Nicolas Philiberts Doku „Sur l’Adamant“ hatte kaum jemand gerechnet. Bei der Preisverleihung im Berlinale Palast gingen einige Trophäen auch nach Berlin.

120 Minuten Standing Ovations gab es auf dieser Berlinale insgesmat – vor der Bären-Gala, wie Moderatorin Hadnet Tesfai zu Beginn der Preisverleihung am Samstagabend im Berlinale Palast verrät. Die Gala selbst hält derweil vor allem eine große Überraschung bereit – und nicht allzu viele emotionale Höhepunkte. Mit dem Goldenen Bären für den einzigen Dokumentarfilm des Wettbewerbs, „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert, hatte kaum jemand gerechnet, zu den Favoriten zählte der Beitrag nicht. „Sind Sie verrückt?“, fragt der 72-jährige französische Dokumentarfilmer die Jury rund um ihre Präsidentin Kristen Stewart, und zeigt sich im besten Sinne konsterniert.

Philibert bedankt sich unter anderem bei jener Psychiaterin, welche die auf der Seine schwimmende Tagesklinik L’Adamant für Menschen mit psychischen Problemen mitgegründet hat, die er über ein gutes halbes Jahr mit der Kamera aufgesucht hat. Und er weist darauf hin, dass im Film nicht immer deutlich auszumachen ist, wer die Patient:innen sind und wer die Pflegekräfte. Um Diskriminierung und Stigmatisierung zu begegnen, sollten wir weniger betonen, was uns trennt, als darauf achten, was uns eint, so Philibert, „so etwas wie Menschlichkeit, das Wissen, dass wir Teil derselben Welt sind“. Wer Philiberts Werk kennt - er arbeitet seit 45 Jahren als Regisseur -, zählt „Sur l’Adamant“ eher nicht zu seinen herausragendsten Filmen.

Endlich wieder Gemeinschaft: Am Anfang der Gala, bevor es Schlag auf Schlag geht mit den Preisen, würdigt das Berlinale-Leitungsduo die vollen Festivalkinos, bester Beweis für den Hunger nach gemeinsamen Filmerlebnissen nach drei Jahren Pandemie. Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek verrät, dass ihr persönliches Highlight die Begegnung mit Joan Baez war, sie ist Fan seit den 70er Jahren. Und um bei der Musik zu bleiben: Zu den vielen Highlights des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian gehörte die Ehrenbären-Verleihung an Steven Spielberg mit der Laudatio von U2-Sänger Bono.

Auch Kristen Stewart, der Star schlechthin auf dieser 73. Berlinale, nennt die zurückliegenden zehn Tage nicht nur eine Filmschule für sich, sie freut sich auch über den Gemeinschaftssinn der Jury über all die Screenings hinweg. Der mit dem Regie-Preis ausgezeichnete Franzose Philippe Garrel beschwört die Solidarität über Ländergrenzen hinweg, ebenso die internationale Filmgemeinschaft. „ Es lebe die iranische Revolution“, sagt er – und erinnert an den 2020 verstorbenen Jean-Luc Godard.

Thea Ehre gewinnt Silber für die Beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle.

© dpa/Fabian Sommer

Als der Große Preis der Jury für Christian Petzolds Sommer-Tragikomödie „Roter Himmel“ verkündet wird, jubelt der Saal: Berlinale-Silber für einen Berliner Filmschaffenden. Schön auch, dass ausgerechnet Jurorin Valeska Grisebach die Entscheidung bekannt gibt. Beide, Grisebach und Petzold, werden der Berliner Schule zugerechnet. Petzold bedankt sich bei seinen „fantastischen Schauspielern“ und erinnert seinerseits an den gerade gestorbenen Filmemacher Carlos Saura, der sehr wichtig für ihn war.

Auch der portugiesische Regisseur João Canijo bedankt sich bei all seinen Schauspielerinnen, als ihm für sein Mutter-Tochter-Drama „Mal viver“ der Preis der Jury überreicht wird. Canijo ist 65 - schon seltsam, dass ausgerechnet die von der schauspielkünstlerisch so vielseitigen, 32-jährigen Kristen Stewart geleitete Jury ihre vier wichtigsten Preise an ältere, bewährte männliche Regisseure vergibt. Nichts gegen deren Verdienste - aber die Berlinale legt doch so großen Wert auf Diversität.

Die findet sich dafür bei etlichen weiteren Preisen. Den Silber-Bär für die beste Nebenrolle gibt Stewart sichtlich euphorisch gekannt: Er geht an die trans Frau Thea Ehre in Christoph Hochhäuslers „Bis ans Ende der Nacht“ (wieso eigentlich Nebenrolle, sie spielt neben Timocin Ziegler die Hauptprotagonistin des Films?). Mit Silber für die beste Hauptrolle wird Sofia Otero ausgezeichnet, die jüngste Preisträgerin in der Geschichte der Berlinale. Otero spielt das achtjährige Mädchen in „20.000 Species of Bees“, das auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität ist. In ihrer spanischen, von Tränen begleiteten Dankesrede bedankt sie sich bei ihrer Familie und überhaupt bei all ihren Verwandten: einer der wenigen emotionalen Momente des Abends. Und die 2020 eingeführte genderneutrale Ausrichtung der Darsteller*innen-Preise ergibt dieses Jahr gleich doppelt Sinn.

Jury-Mitglied Radu Jude sorgt für einen der wenigen Lacher der Gala, als er den Drehbuch-Preis vergibt und sich über das für ihn als Rumänen kaum aussprechbare deutsche Wort „Drehbuch“ amüsiert – um die Auszeichnung dann Angela Schanelec für ihr Script zu „Music“ zuzusprechen. Ein weiterer Preis, der nach Berlin geht. Die Regisseurin und Autorin ist selber nicht da, lässt ihren Dank verlesen und weist auf die Entspanntheit der Eidechse hin, die im Film einen kurzen, eindrucksvollen Auftritt hat.

Silber für eine herausragende künstlerische Leistung erhält Hélène Louvart, die Kamerafrau des Wettbewerbs-Beitrags „Disco Boy“, mit Franz Rogowski in der Hauptrolle.

Der spanische Queer-Philosoph und Regiedebütant Paul B. Preciado erhält u.a. den Encounters Spezialpreis der Jury für „Orlando, ma biographie politique“.

© dpa/Monika Skolimowska

Auch bei den übrigen Preisen finden sich unter den Gewinner:innen etliche Frauen, auch People of Color, Transpersonen, Mitglieder indigener Gruppen, hier ist sie, die vielbeschworene Diversity. Die Jury des von Carlo Chatrian 2020 eingeführten zusätzlichen Wettbewerbs Encounters vergibt ihren Spezialpreis ex aequo an den Tibet-Film „Samsara“ von Lois Patiño und an das Regiedebüt des Queer-Philosophen Paul B. Preciado: „Orlando, ma biographie politique“, der damit zum Abräumer der 73. Berlinale wird, nachdem er bereits den Teddy Award, den Tagesspiegel-Leserjury-Preis und einer lobende Erwähnung der Dokumentarfilm-Jury erhielt. Preciado bedankt sich bei seinen 25 Trans-Darsteller*innen - und bei Virginia Woolfe: Sie habe seine Biografie geschrieben, und das lange vor seiner Geburt.

Über den Encounters-Regiepreis freut sich Tatiana Huezo aus Mexiko; ihr Dokumentarfilm über eine Familie in einem abgelegenen Dorf, „El eco“ hatte bereits den Hauptpreis bei den Dokumentarfilmen gewonnen. Das ist too much, muchisimas gracias, sagt die Filmemacherin sichtlich gerührt - und verliert vor lauter Aufregung einen Ohrring, den die Moderatorin ihr hinterherträgt. Den Hauptpreis in Encounters trägt der Belgier Bas Devos mit seinem stillen, eindrücklichen Migrantenfilm „Here“ davon, er bedankt sich bei seiner coolen Tochter und seiner Partnerin: Sie habe ihn ermutigt, nie eine Abkürzung zu nehmen.

Begonnen hatte der Bären-Reigen wie immer mit den Kurzfilmen, mit Gold für „Les chenilles“ von Michelle und Noel Keserwany über Frauen im Libanon und Silber für den Aborigine-Film „Dipped in Black“ von Matthew Thorne und Derik Lynch. Und die dreiköpfige Jury für den besten Erstlingsfilm entschied sich beim Hauptpreis für die Dokufiction „The Klezmer Project“ von Leandro Koch und Paloma Schachmann.

Fazit: eine schnelle Preisverleihung, dankbare Gesichter, gemischte Gefühle.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false