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Jon (Aliocha Schneider, vorne rechts) ereilt beim Griechenland-Urlaub der Fluch des Ödipus.

© Faktura Film/Shellac

„Music“ im Berlinale-Wettbewerb: Ödipus in Berlin

Angela Schanelec interpretiert in „Music“ den griechischen Mythos auf moderne Weise. Ihr Film ragt aus der Bären-Konkurrenz heraus.

Von Andreas Busche

Mit einem Kuss beginnt bei Angela Schanelec die Tragödie von Ödipus. Lucian nähert sich Jon, dessen Körper versteinert, für ein paar Sekunden verkrampfen sich ihre Hände in einem wortlosen Kampf, dann stößt Jon den jungen Mann von sich. Die Natur schwillt an, Insektenzirpen und das Rauschen des Windes füllen die Luft – und Lucian liegt tot am Boden, den Kopf an einem Stein blutig geschlagen. Die Montage in den Filmen Schanelecs ähnelt der Bewegung eines Wimpernschlags: Jon bricht weinend zusammen, muss von seinen Freunden getröstet werden. Schon in der nächsten Szene nimmt er im Gefängnis seine Habseligkeiten entgegen.

Wie im Zustand des Rapid-Eye-Movement-Schlafs muss man sich auch Angela Schanelecs „Music“, eine sehr freie Adaption der Ödipus-Geschichte, vorstellen. Die griechische Mythologie ist in ihren Filmen ein wiederkehrendes Thema, „Music“ allerdings bedient sich nur einiger Motive. Ihre eigenwillige Interpretation führt sie über Umwege (und einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren) aus einem bukolischen Griechenland in das Berlin der Gegenwart, wo Ödipus seine Tochter Antigone im Lastenroller zur Schule bringt.

Eine prägnante Stimme im europäischen Autorenkino

Die Ellipse ist spätestens seit „Der traumhafte Weg“ Schanelecs bevorzugte erzählerische Figur. So konsequent wie in „Music“ hat sie sich ihrer aber noch nie bedient. Im diesjährigen Wettbewerb sticht sie damit formal weit aus den abgesicherten Arthouse-Konventionen der Konkurrenz heraus. Aus dem deutschen Kino sowieso. Mit ihren beiden jüngsten Berlinale-Filmen „ Ich war zuhause, aber…“, der 2019 den Regiepreis gewann, und nun „Music“ etabliert sich Schanelec endgültig als eine der prägnanten Stimmen im europäischen Autorenkino.

Das Kino kennt, grob gesagt, zwei Formen von Prätention. Einerseits die enzyklopädische Anhäufung von (bildungsbürgerlichem) Wissen – ein Verdacht, der bei einem Rekurs auf das griechische Drama zwangsläufig im Raum steht. Die Berliner Filmemacherin wählt hingegen die umgekehrte Methode, Prätention durch Auslassung. Es wird kaum gesprochen in „Music“, die Körper und die Lieder des Songwriters Doug Tielli ersetzen weitgehend die Dialoge.

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So wird eine zweite Erzählebene eingezogen, auf deren Logik man sich unbedingt einlassen sollte. Schanelecs Film entfaltet sich wie ein Rätsel, dessen Lösung man sich erarbeiten kann; er ist als offenes Angebot zu verstehen. Sein eigentlicher Zauber besteht aber darin, sich der Geschichte von Jon (Aliocha Schneider) und Iro (Agathe Bonitzer), die im Gefängnis die wunden Knöchel des „Schwellfußes“ versorgt und nach der Haftstrafe mit ihm zusammenbleibt, voraussetzungsfrei anzuvertrauen.

Angela Schanelec überschreibt die mythischen Figuren mit neuen Biografien, sie sind nur noch in den Motiven erkennbar; dennoch ist „Music“ auf eine fast transzendente Weise klassisch. Die Gefängnisinsassen tragen klobige Holzschuhe, wie die Darsteller im griechischen Drama. Ein Gefühl der Gleichzeitigkeit verbindet die Bilder von Ivan Markovic, sie besitzen eine berührende Stofflichkeit. Die vergehende Zeit nehmen sie genauso in sich auf wie den Schmerz von Jon, der ahnungslos durch die Verwerfungen von Schanelecs Inszenierung wandert. Die tragische Figur ist nicht sein Ödipus-Alter-Ego, sondern die Menschen um ihm herum, die – wie Iro – dem Lauf des Schicksals ausgesetzt sind.  

Es ist schwer zu sagen, an welchen Maßstäben man „Music“ in der diesjährigen Bären-Konkurrenz – mehr noch: an welchen Kriterien irgendeines Wettbewerbs – messen kann. Angela Schanelec hat über die Jahre eine Filmsprache entwickelt, die im gegenwärtigen Kino unvergleichlich ist, ohne dass sie sich damit aus dem Kanon des Kinos verabschiedet. „Music“ kommt – und das nicht primär wegen seines Themas – in seiner Durchlässigkeit, seiner reinen Form, einem Urtext des Kinos schon sehr nah.

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