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100 Songs" von Roland Schimmelpfennig am Hans Otto Theater Potsdam. Credit: Thomas M. Jauk

© Thomas M. Jauk

Wenn die Welt zerspringt: „100 Songs“ am Potsdamer Hans Otto Theater

Ein Abend über die letzten Sekunden vor dem Tod: „100 Songs“ schenkt den Opfern eines Attentats eine Stunde lang ewiges Leben. Berührend, nur kommt es als Stück nicht vom Fleck.

Stellen Sie sich vor, Sie lassen eine Tasse fallen. Wie lange dauert es, bis sie zu Bruch geht? „100 Songs“, das Stück von Roland Schimmelpfennig, das am Freitag im Hans Otto Theater Premiere feierte, vermutet ganz richtig: eigentlich nur Millisekunden. Eigentlich. Es vermutet auch: In so ein paar Millisekunden kann viel passieren. Eine Liebe kann entstehen. Eine Erkenntnis kann einen ereilen. Ein ganzes Leben kann vorbeiziehen. Ein Leben kann zu Ende gehen.

Was passiert in den Sekunden davor? Das ist die Frage, um die es hier geht. Dabei ist dies, auch wenn am Schluss sehr schön gesungen werden wird, und zwar a capella, kein Liederabend. Es ist ein Abend über die entsetzliche, jede Vorstellungskraft sprengende Tatsache, dass etwas unwiderbringlich kaputt gemacht werden kann. Eine Tasse zum Beispiel. Oder ein Leben. Oder viele Leben. Schimmelpfennig hat das Stück 2004 geschrieben, nach den von islamistischen Extremisten verübten Zuganschlägen in Madrid. 193 Menschen starben, über 2000 wurden verletzt.

Auch „100 Songs“ ist an einem Bahnhof angesiedelt, aber das wird erst nach und nach klar. Zunächst steht da nur Guido Lambrecht, schwarz gekleidet, barfuß, und guckt in den Saal. Wischt sich etwas von der Hand, vom Boden, dann von der Stirn. Später wird man begreifen: wahrscheinlich Blut. „Eine Gruppe“, sagt er irgendwann, mit vager Geste ins Publikum. Die Gruppe könnten wir sein, sie könnte in Israel sein. Sie könnte überall sein.

Dieser Anfang ist stark, weil er vieles offen lässt. Er kostet die Schwebe, die Schimmelpfennigs Text sucht, voll aus. Hier gibt es keine festen Figuren, mit einer Ausnahme (Katja Zinsmeister als Sally) auch keine Namen. Es gibt Stimmen, die ineinanderreden, Fragmente, die Variation von immer ähnlichen Textpassagen in Loops.

Eine Stunde ewiges Leben

Die grübelnde Verwaltungsangestellte (Franziska Melzer), die dampfplaudernde Studentin (Charlott Lehmann) und ihr begriffsstutziger Liebhaber (Paul Sies), der verzweifelte Ehemann (Jan Hallmann), eine Stripperin aus Dessau (Guido Lambrecht), und so weiter: Sie alle sind Passagiere in einem Zugabteil, alle in schwarzer Kleidung, alle barfuß. Alle gefangen in einer Art Zwischenwelt. Kurz bevor jemand eine Sporttasche in das Abteil stellt und diese explodiert. Kurz bevor „die Welt zerspringt“.

Wie viele Leben leben wir? Wie viele Tode sterben wir? Wie viel geht verloren? Wie viel ist gewonnen?

Roland Schimmelpfennig, „100 Songs“

Und sie zerspringt wieder und wieder und wieder. Immer wieder ist es 8.55 Uhr. Immer wieder fällt Sally die Tasse aus der Hand, diskutiert das Studentenpärchen das Genre „romantische Komödie“, Lichter flackern auf, und los geht’s von vorn. „100 Songs“ schenkt seinen Protagonisten eine Stunde lang das ewige Leben. Das ist ein berührender Gedanke. Nur: Das Stück ist in der gleichen Dynamik gefangen. Es kommt nicht vom Fleck. Und das, obwohl die Regie (Malte Kreutzfeldt) zwar dosiert, aber ganz schön bedeutungsschwanger Bühnenzauber auffahren lässt, wie um Bewegung in die Schimmelpfennigsche Schwebe zu bringen. Tick-Tack-Geräusche und etwas Video, aufflammende Scheinwerfer und Gänsehaut-Musik aus einem Kofferradio („Creeps“). Geigen.

Auch Schimmelpfennig selbst scheint der Schwebe seines Stücks nicht ganz zu trauen. Er gibt nicht nur Einblick in die fiktive Gedankenwelt von Menschen kurz vor dem Tod, sondern liefert die großen Fragen, die sein Stück stellt, gleich eins-zu-eins mit. „Wie viele Leben leben wir? Wie viele Tode sterben wir? Wie viel geht verloren? Wie viel ist gewonnen?“ Das Ergebnis von so viel Bedeutungsmasse ist seltsamerweise das Gegenteil: Wo der Text wichtig werden will, wirkt er banal. Trostpreis allerdings, und kein kleiner: So schön gesungen wie hier wurde „Creeps“ noch nie.

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