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Thin Skin, Eliška Brtnická & coll. UNIDRAM 2023

© Anna Benháková

Unidram-Festival in Potsdam: Von der Zerbrechlichkeit der Heimat

Das Zuhause zog sich als Motto durch die 29. Auflage des internationalen Theaterfestivals Unidram. Ein Rückblick – bevor das Event am Samstag mit „Babel“ endet.

Von Astrid Priebs-Tröger

Mit Wellpappe, Klebestreifen und Kettensäge startete am 7. November das diesjährige 29. Unidram-Festival. In der Waschhausarena lag ein riesiger Papp-Bastelbogen auf dem Bühnenboden und die französische Performerin Phia Ménard, gekleidet wie eine punkige Superheldin, heimwerkte und philosophierte sich durch die europäische Nachkriegsgeschichte. Deren Werte und Räume seit geraumer Zeit ins Wanken geraten sind.

Und nichts Geringeres als das Athener Parthenon – seit 2500 Jahren zentraler Bau der Akropolis und europäisches Wahrzeichen – wurde von ihr mit Pappe und Klebestreifen, einigem Kraft- aber auch tänzerischem Körpereinsatz in einer comicartigen Wonder Woman-Show wiedererrichtet.

Doch kaum entstanden, verging es auch schon wieder unter aufziehenden Natur- und Kriegsgewalten. Phia Ménard sezierte in „Mother House“ die moderne „Idee“ Europas, die nach den Flächenbombardements der Alliierten im Zweiten Weltkrieg und dem US-amerikanischen Marshallplan entstand. Mit ihren „Immoral Tales“ fragt sie sowohl nach den ideellen Werten dieser Gemeinschaft als auch nach dem Material, aus dem diese entstand.

Die Verantwortung der Deutschen

„Zuhause“ ist das Motto und der Assoziationsraum, an dem sich das diesjährige Programm von Unidram entlang bewegt. Von Heimat beziehungsweise Zuhause sprach auch Potsdams neuer Kulturbeigeordneter Walid Hafezi (Grüne), der das Festival am Dienstagabend eröffnete. Mit Carl Jaspers sagte er, „Heimat sei da, wo ich verstehe und verstanden werde.“ Zugleich betonte er die Verantwortung der Deutschen gegenüber ihren Mitbürger:innen jüdischen Glaubens in einer Zeit, in der das Gefühl eines sicheren Zuhauses für viele Menschen besonders fragil geworden sei.

Das Ruinenfeld oder – je nach Perspektive – die Baustelle, die Phia Ménard hinterlassen hat, wirkte anfangs verstörend, im Ganzen jedoch nicht vollkommen hoffnungslos. Nach dieser symbolträchtigen Demontage des „Hauses Europa“ konnte man am zweiten Abend, der deutschen, italienischen und belgischen Nachwuchskünstler:innen vorbehalten war, ganz unmittelbar in ein privates Zuhause eintauchen. In der immersiven Installation „Mysharedspace“ des gleichnamigen deutschen Frauenkollektivs lernte man einen individuellen Mikrokosmos kennen und wurde selbst Teil eines größeren menschlichen Beziehungsgeflechtes.

Etwas Ähnliches passierte auch in der intensiven „Körper“-Tanzperformance der italienischen Choreografin Luna Cenere, der es gelang, die fünf Körper im Halbdunkel der leeren Fabrik-Bühne zu einem größeren organischen Ganzen zu verschmelzen. Berückend und bedrückend zugleich fühlte sich das für Menschen mit unguten Kollektiverfahrungen an. Denn im finalen Bild einer überaus organischen „Mensch-Maschine“, in der der/die Einzelne als Teil des Ganzen funktionierte, war beinahe jede Individualität aufgehoben.

Gemeinsam Zugfahren

„Eine Handvoll Leute und etwas, das dem Glück ähnelt“, war die interaktive Zugreiseperformance der französischen Compagnie Vélo Théâtre überschrieben, bei der man selbst Mitgestalter:in einer fantasievollen Gemeinschaftsaktion wurde. Sitzplatzsuche, Zugevakuierung und nächtliche Wartezeiten wurden auf wunderbar spielerische Weise, mithilfe von zwei charmanten Zugbegleitern, Live-Musik und eines kleinen Modelleisenbahnzuges in die Spur gesetzt. Faszinierend, welche direkten Interaktionen im analogen Zeitalter beim Zugfahren noch möglich waren und wie wichtig es ist, im geschützten Theaterraum viel mehr über Gelegenheiten für echtes Miteinander, Verbundenheit und Zugehörigkeit nachzufühlen und - zu denken. Auch Walid Hafezi betonte, dass die Sehnsucht nach Sicherheit und einem friedvollen Miteinander im Zentrum vieler der bei Unidram gezeigten Stücke steht.

Und wie sehr dabei Langsamkeit und Genauigkeit eine Rolle spielen, war am dritten Abend besonders in de Inszenierung der tschechischen Trapezartist:innen zu erspüren. Alžběta Tichá, Lukas Bliss und Eliška Brtnická traten in „Thin Skin“ in grauen Arbeitsoveralls auf und setzten ihre vier Trapeze aus langen Eisenstangen und dünnen Schnüren nach und nach selbst zusammen.

In diesem meditativen Entstehungsprozess entstanden wunderbar grafische Kompositionen und viele kontemplative Momente beim Betrachten der Verbindungen zwischen Mensch und Material. Denn dieses Trio arbeitete sehr präzis und verbindend. Sie kreierten mit „Thin Skin“ ein minimalistisches Gesamtkunstwerk aus Akrobatik, Beziehungen und Material, das vor allem in seiner Schlichtheit und Intensität faszinierte.

Am Samstagabend geht das Festival mit „Babel“ zu Ende. Die Inszenierung des Belgiers Steve Salembier verspricht eine Meditation über die Metropole des 21. Jahrhunderts. Diese wird als Biotop zwischen dem Größenwahn der urbanen Landschaft und der Geringfügigkeit des einsamen Individuums gezeichnet. Dabei entsteht jedoch kein apokalyptisches Katastrophenbild, sondern vielmehr wird die Traurigkeit einer trostlosen Welt fühlbar.

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