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Jörg Müller, Leiter des Verfassungsschutzes Brandenburg.

© Andreas Klaer

Antisemitismus in Brandenburg nimmt zu: „Wir waren in vielen Bereichen nicht wachsam genug“

Rechte Erzählungen und fehlende Intervention befeuern antisemitische Straftaten. Wie können Lehrkräfte, Vereine und jeder Einzelne dagegen wirken? Darüber diskutierten Experten.

Aussagen wie „Free Palestine“ und „Israel ist selber schuld“ begegnen der Kleinmachnower Politiklehrerin Katrin Schöning seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober in ihren Klassen. Jedes Mal suche sie die sachliche Debatte, sagt sie, und versuche, dass ihre Schülerinnen und Schüler diese Aussagen hinterfragen oder zumindest eine weitere Sicht zulassen. „Ich war nach zwei Wochen physisch und psychisch ausgepowert. Ich fühle mich alleingelassen“, sagt Schöning.

Emotional schildert sie am Mittwochabend am Ende einer Podiumsdiskussion zu Antisemitismus in Brandenburg ihren Alltag in der Schule. Eingeladen hatte die F.C. Flick Stiftung, die zum dritten Mal und erstmals seit dem 7. Oktober zur Reihe „Potsdam Publik: Debatten zum Antisemitismus“ im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam eine Debatte veranstaltete.

Antisemitische Straftaten von Rechts

„Wir haben einen deutlichen Anstieg antisemitischer Straftaten“, berichtet Brandenburgs Verfassungsschutz-Chef Jörg Müller auf dem Podium. Diese Straftaten, vorwiegend Sachbeschädigungen, volksverhetzende Äußerungen und Graffiti, gebe es nicht erst seit dem brutalen islamistischen Überfall auf Israel. „Antisemitismus haben wir seit vielen Jahren im Land“, sagt Müller. Im Regelfall seien es rechtsextremistische antisemitische Straftaten. „Die größte Bedrohung ist der Rechtsextremismus im Land Brandenburg.“ Dieser bediene sich antisemitischer Verschwörungserzählungen.

Über Antisemitismus und Rechtsextremismus in Brandenburg diskutierten Verfassungsschutz-Leiter Jörg Müller, Kriminologie und Opferberater Hannes Püschel und Sozialwissenschaftlerin Prof. Friederike Lorenz-Sinai (v.l.).
Über Antisemitismus und Rechtsextremismus in Brandenburg diskutierten Verfassungsschutz-Leiter Jörg Müller, Kriminologie und Opferberater Hannes Püschel und Sozialwissenschaftlerin Prof. Friederike Lorenz-Sinai (v.l.).

© Andreas Klaer

„Wir haben eine andere Rechte, eine gesellschaftlich verankerte Rechte“, beobachtet Kriminologe Hannes Püschel, der beim Verein Opferperspektive Opfer rechter Gewalt berät. Nach der Flüchtlingswelle 2015/16 und Corona säßen sie mit am Küchentisch, in den 1990ern verband man mit Rechtsextremismus eher nostalgische Nationalsozialisten oder radikale Rechte.

„Wir haben rechtsextremistische Strukturen im Parlament“, ergänzte Jörg Müller. Die AfD bediene sich antisemitischer Erzählungen, etwa wenn sie von „Globalisten“ oder dem „Great Reset“ spreche und sich auf eine angebliche „jüdische Weltverschwörung“ beziehe. Dass die AfD eine in weiten Teilen antisemitische Partei sei, liege auch in der Relativierung des Holocaust, sagt Susanne Krause-Hinrichs, Geschäftsführerin der F.C. Flick Stiftung. Ein Cottbuser AfD-Politiker hatte beispielsweise einen Impfbus mit der Deportation der Juden verglichen.

Auch der gelbe „Ungeimpft“-Stern der Anti-Corona-Demonstrationen sei stark antisemitisch gewesen, betont Krause-Hinrichs.

Susanne Krause-Hinrichs, Geschäftsführerin der F.C. Flick Stiftung.
Susanne Krause-Hinrichs, Geschäftsführerin der F.C. Flick Stiftung.

© Andreas Klaer

Friederike Lorenz-Sinai berichtet von ihrer Arbeit in der Beratungsstelle Ofek Berlin, Jüdinnen und Juden fühlten sich nach den damaligen „Montagsdemos“ der Corona-Leugner im Nahverkehr bedroht.

Antisemitismus in der Schul-Chatgruppe

Aus ihrer Forschung zu Antisemitismus an Schulen weiß die Professorin und Sozialwissenschaftlerin von der Fachhochschule Potsdam, dass Lehrkräfte bei antisemitischen Inhalten in Chatgruppen – bedingt durch fehlende Vorbereitung im Schuldienst – oft nicht wissen, wie sie reagieren sollen und Aussagen teilweise als Provokation relativieren.

Sogenanntes „Anhitlern“, wenn Bildmontagen von Adolf Hitler per Handy verschickt werden, gehöre zum Standard der Jugendkultur, berichtet Verfassungsschutzchef Müller von Aufklärungsarbeit an Schulen.

Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai, Professur für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung an der Fachhochschule Potsdam.
Prof. Dr. Friederike Lorenz-Sinai, Professur für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung an der Fachhochschule Potsdam.

© Andreas Klaer

Er fordert für Lehrkräfte Handlungssicherheit für Prävention, Intervention und Repression. „Sie brauchen Rückhalt von Schulleitung und Ministerien“, so Lorenz-Sinai. Sie appelliert, bei jedem geteilten Bild zu besprechen, warum es antisemitisch und verletzend ist.

Burg ist kein Schulproblem

In der Debatte wird auch auf die Grund- und Oberschule Burg verwiesen, wo zwei Lehrkräfte im April rechtsextreme Vorfälle publik machten. „Burg ist eine absolute Niederlage im Kampf gegen Rechtsextremismus“, sagt Kriminologe Püschel.

Hannes Püschel, Jurist und Kriminologe, arbeitet als Berater für Betroffene rechter Gewalt bei der Opferperspektive e.V.
Hannes Püschel, Jurist und Kriminologe, arbeitet als Berater für Betroffene rechter Gewalt bei der Opferperspektive e.V.

© Andreas Klaer

Verfassungsschutz-Chef Müller entgegnet: „Wir müssen viel weitersehen. Burg ist doch kein Schulproblem. Das ist ein Problem der Region. Dort gibt es eine Bevölkerung, die kein Problem mit Rechtsextremismus und Antisemitismus hat.“

In Schulen, Feuerwehr und Sportverein aufklären

Doch wie lässt sich dagegenwirken? „Wir brauchen die Sichtbarmachung der Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung, die Demokratie und Pluralismus und keinen Antisemitismus will“, appelliert Müller, wie die Lichterketten gegen Rechts 1992. Wissenschaft und Zivilgesellschaft müssten sich vernetzen und an bestehende Strukturen wie Feuerwehr, Kirchen, Landfrauen und DLRG in den Dörfern anknüpfen, sagt Krause-Hinrichs. Die Podiumsgäste sprachen sich für den Brandenburger Weg aus, der Ende der 1990er zur Bekämpfung gegen rechte Gewalt initiiert wurde.

Verfassungsschutzchef Müller zeigt sich rigoros: Er plädiere für Spielsperren rechtsextremer Fußballspieler, für Verbote von Thor-Steinar-Kleidung bei der Feuerwehr und frühzeitiger Intervention, auch wenn ein Achtjähriger „Heil Hitler“ sagt. In Vereinen sei es lange nicht angesprochen worden. „Wir waren in vielen Bereichen nicht wachsam genug“, sagt Müller und meint die Gesellschaft als Ganzes.

Jörg Müller (M.) und Hannes Püschel im Gespräch. Die Podiumsrunde moderierte PNN-Chefredakteurin Sabine Schicketanz.
Jörg Müller (M.) und Hannes Püschel im Gespräch. Die Podiumsrunde moderierte PNN-Chefredakteurin Sabine Schicketanz.

© Andreas Klaer

Es gehe aber auch im Kleinen: etwa indem man antisemitische Profile auf Tiktok anzeige und eine Löschung veranlasse, sagt Müller. Oder indem man Widerworte gegen antisemitische Aussagen gebe, wie es Frank-Christian Hinrichs wagte, Aufsichtsratsvorsitzender des Fußballvereins SV Babelsberg 03. Mit weichen Knien habe er jüngst im Stadion zu Fans „Das geht nicht“ gesagt, sei zum Fanbeauftragten gegangen und habe bei der Polizei eine Anzeige gestellt, erzählt er.

Was nach zwei Stunden Diskussion blieb, war dennoch Ernüchterung. „Mir geht es schlechter als vor der Veranstaltung. Ich könnte heulen“, sagte Politiklehrerin Katrin Schöning.

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