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Amir Baylly als einer der Orlandos in „Orlando, meine politische Biografie“.

© Salzgeber

Feier des Nichtbinären: Paul B. Preciados beglückender Filmessay „Orlando, meine politische Biografie“

Inspiriert von Virginia Woolfs Roman hat der spanische Philosoph und Queertheortiker einen zugleich kämpferischen, poetischen und lebensfrohen Genremix geschaffen.

Breite, kreisrunde Krägen – nicht gerade praktisch, aber im elisabethanischen Zeitalter Mode bei britischen Adeligen. Vielleicht erleben sie bald ein Comeback in der queeren Community, denn der spanische Philosoph Paul B. Preciado benutzt solche Halskrausen in seinem bezaubernden ersten Film, um eine ganz besondere aristokratische Gemeinschaft zu erschaffen – und einen Bogen zu Virginia Woolfs Roman „Orlando“ zu schlagen. Die Titelfigur wird Ende des 16. Jahrhunderts als Mann geboren, verwandelt sich mit 30 in eine Frau und lebt noch 300 weitere Jahre.

Wer in „Orlando, meine politische Biografie“ eine weiße Halskrause trägt, gehört zu den 25 modernen Orlandos, die Preciado für den Film versammelt hat. Sie sind zwischen acht und 70 Jahren und identifizieren sich als trans oder nichtbinär. Auch er selbst gehört dazu und sagt zu Beginn, dass er keine eigene Biografie schreiben könne, weil Virginia Woolf das schon 1928 getan habe.

Also verfasst er einen Brief an die britische Autorin, der als Off-Kommentar durch seinen poetischen, auf Französisch gedrehten Filmessay führt. Darin macht er Woolf auch auf Dinge aufmerksam, die sie in seinen Augen vergessen oder sich zu einfach vorgestellt hat – die Vision von einer Transition im Schlaf beispielsweise. Eine solche hat sich Preciado als Jugendlicher vergeblich gewünscht, doch in der Realität stehen Psychiater*innen und Richter*innen vor der Verwirklichung der eigenen Gendervorstellung.

Folglich sitzt Preciado in einer der Spielszenen zusammen mit vier anderen Orlandos – natürlich Virgina Woof lesend – im Wartezimmer eines Psychiaters, von dem sich alle Anwesenden die Verschreibung von Hormonen versprechen. Tipps werden ausgetauscht und schließlich auch Östrogen,- und Testosteronpräparate, solidarische Selbsthilfe hat unter trans Menschen Tradition. Und so verwandelt sich das Wartezimmer plötzlich in einen Club, die Orlandos tanzen zu einem Elektropop-Song, der die „pharmazeutische Befreiung“ feiert, übrigens auch eines der Themen in Preciados Buch „Testo Junkie“ von 2008.

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In dieser Psychatrie-Episode, zu der zudem ein herrlich absurdes „Beratungsgespräch“ durch den Doktor gehört, wird deutlich, wie genial sich Preciado darauf versteht, einen schmerzhaften Erfahrungsraum in selbstermächtigende Bilder umzuwandeln. Auch sonst ist „Orlando, meine politische Biografie“ davon geprägt, nichtbinäre und trans Menschen nicht als Opfer zu zeigen, sondern als kraft- und fantasievolle Meister*innen ihrer eigenen Lebensgeschichten.

Sie berichten über Erlebnissen und Gefühle rund um ihre Genderidentiät. Die von ihnen gesprochenen Texte hat Preciado geschrieben, sie sind das Ergebnis eines intensiven Workshop-Prozesses mit seinen Orlandos. Wie beim 15-jährigen Ruben, der über Pubertätsblocker und Verliebtheit spricht, vermischen sich die persönlichen Erzählungen mit Texten aus der Sicht von Woolfs Orlando, wobei Preciado die Erzählperspektive von der Dritten in die Erste Person übertragen hat.

Das hat nicht nur einen reizvollen Rückkopplungseffekt zwischen den Zeiten, sondern trägt auch zum schillernd-fluiden Charakter des Films bei, der sich einer Genre-Zuschreibung entzieht. Preciado selbst nennt ihn nichtbinär. Was nicht nur angesichts des bunten Mixes aus gespielten Szenen, Zitaten, essayistischen Texten und historischem Dokumentarmaterial einleuchtet, sondern auch, weil die Orlandos selbst, sich immer wieder der binären Einsortierung verweigern. Ruben sagt etwa, dass er sich lieber als trans Junge bezeichnet, als einfach nur als Junge, weil er seine Erfahrungen vor der Transition nicht auslöschen wolle. Und eine weitere Orlando-Personifizierung sinniert: „Die Worte, die das Geschlecht beschreiben, das ich sein möchte, gibt es nicht.“

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Bei aller Text- und Materialfülle wirkt „Orlando, meine politische Biogafie“ nie überladen, denn Paul B. Preciado hat zusammen mit seinem Cutter Yotam Ben David einen Flow erzeugt, dessen spielerische Leichtigkeit umgehend in den Bann zieht. Wozu auch sein regelmäßig aufblitzender Humor beiträgt.

Auf der Berlinale, wo der von Arte produzierte Film im Februar Premiere hatte, verzückte er sowohl queere als auch nicht-queere Zuschauer*innen und bekam drei Auszeichnungen, darunter den Preis der Tagesspiegel-Leserjury. Der deutsche Kinostart fällt in die Zeit der Debatte über das Selbstbestimmungsgesetz, das es nichtbinären und trans Menschen erleichtern soll, ihren Geschlechtseintrag zu ändern. Jedoch ist der vor einigen Wochen vom Kabinett vorgelegte Entwurf dafür von großem Misstrauen gegenüber nichtbinären und trans Menschen getragen.

Man wünschte, die Minister*innen hätten vorher Preciados „Orlando“ gesehen und vielleicht anders formuliert. Im Film wird die Frage des Geschlechtseintrags in Dokumenten im letzten Viertel angesprochen. „Warum ist es so schwer, uns neue Papier zu geben? Warum meint jemand anderes, ein Richter, ein Psychiater mehr zu wissen über meine Identität als ich?“, fragt Emma in einem eindringlichen Monolog, der trotz verzweifelter Momente mit einer Nahaufnahme ihres lächelnden Gesichts endet. Und einem stolzen Selbstliebe-Statement.

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