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Zeitgenössischer Volkstanz. „Carcaça“, ein Stück des portugiesischen Choreografen Marco da Silva Ferreira.

© José Caldeira

Das Berliner Festival Tanz im August ist eröffnet: Lebenslust und Agitprop

Internationales Festival für zeitgenössischen Tanz. Marco da Silva Ferreiras Choreografie „Carcaça“ eröffnet die erste Auswahl des neuen Leiters Ricardo Carmona.

Von Sandra Luzina

Es war kein ganz leichter Start für den Tanz im August. Der portugiesische Choreograf Marco da Silva Ferreira, mit dessen Produktion „Carcaça“ (zu Deutsch: Gerippe) das Festival eröffnet wurde, sowie einer seiner Tänzer konnten nicht nach Berlin kommen - aus gesundheitlichen Gründen. Dies gab der neue künstlerische Leiter Ricardo Carmona bekannt. Die verbleibenden acht Tänzer:innen haben die Choreografie in Windeseile neu für die Bühne arrangiert. Toller Einsatz.

Eine gewisse Nervosität war auch beim HAU-Team zu spüren. Das Publikum musste erst mal das übliche Ritual aus drei Eröffnungsreden über sich ergehen lassen. Die neue Kulturstaatssekretärin Sarah Wedl-Wilson fasste sich kurz und lobte die stilistische Vielfalt des Festivals, das geografische und thematische Schwerpunkte setzt.

Annemie Vanackere und das Ökosystem

Ricardo Carmona verglich das Festival mit einem Pilz – und bemühte auch noch andere botanische Vergleiche. Elf Monate würden er und sein Team quasi unter der Erde arbeiten, um dann einen Monat lang hervorzusprießen. Die HAU-Intendantin Annemie Vanackere verglich die Berliner Tanzlandschaft mit einem Öko-System. Und mahnte: „Diese Landschaft muss gepflegt und gefördert werden – und das braucht Zeit.“ Die Angst vor einem Kahlschlag geht ja derzeit um in der freien Szene. Von freudiger Erregung und sprießender Begeisterung war bei den Reden von Carmona und Vanackere so gar nichts zu spüren. Doch den Tänzer:innen ist es dann schnell gelungen, die Stimmung zu heben.

Marco da Silva Ferreira kommt vom Urban Dance. In „Carcaça“ ging er von der Frage aus: Welche Tänze könnte man heute als Volkstänze bezeichnen? Seine Choreografie kombiniert Tanzstile und Praktiken, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Er verbindet Streetdance und Clubbing mit Schrittmustern, die man von folkloristischen Tänzen kennt. Dabei fokussiert er sich auf die Fußarbeit. Die Tänzer:innen treten zunächst in schwarzen Trikots mit Cut outs auf. Später schlüpfen einige der Männer und Frauen in Röcke mit bunten Ethno-Mustern.

Sie hüpfen von einem aufs andere Bein, tippeln mit gekreuzten Beinen, wirken manchmal wie ein elastischer Flummiball. Die Fußarbeit kombinieren sie mit wechselnden Armbewegungen. Manchmal sieht man Einflüsse des Voguing, die Lust an Pose. Und auch Tänze aus den Ex-Kolonien haben Ferreira inspiriert.

Eine weitere Szene aus „Carcaça“ von Marco da Silva Ferreira.

© José Caldeira

Das Ensemble wird live begleitet von dem vorzüglichen Percussionisten José Maruccho und von Luis Pestana, der elektronische Klänge beisteuert, die immer wieder überraschen. Die Energie steigert sich, während die rhythmischen Muster variiert werden. Das ist streckenweise mitreißend, eine Demonstration von Lebensfreude. Nur leider ist die Guckkastenbühne des Hebbel-Theaters denkbar ungeeignet für das Stück. IM HAU2 wäre die Energie eher auf das Publikum übergesprungen.

Marco da Silva will in „Carcaça“ auch der Frage nachgehen, was eine Gemeinschaft zusammenhält. Die Tänzer:innen bilden hier eine Gruppe und driften wieder auseinander. Die Konstellationen, die durchgespielt werden, wirken eher beliebig.

Ganz unvermutet driftet der Abend dann in den Klassenkampf ab. Die Tänzer:innen stimmen ein portugiesisches Lied an: „Meine Herren, ich bin eine Arbeiterin. Ich spreche ohne Manieren.“ Der Text handelt von Armut und harter Arbeit und übt Kritik an der Nelkenrevolution. Solange noch Bürger an der Macht seien, gehe die Ausbeutung weiter.

Die Arme der Tänzer:innen umspannt ein rotes Trikot, sodass sie wie gefesselt wirken. Am Ende befreien sie sich, beim Finale greifen sie nochmal das Schrittmaterial des Anfangs auf, doch nun wirkt die Gruppe wie zusammengeschweißt. Der Traum von einer sozialistischen Gesellschaft mag naiv anmuten. Doch mit seiner Tanzlust sorgte das portugiesische Ensemble für gute Vibes.

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