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Homepage: Sogar Kriminalität kann folgen Günter Esser: Legasthenie sollte behandelt werden

Es ist wie verhext: Wenn sie „rollt“ schreiben soll, steht „Rot“ auf dem Papier. Statt „Stall“ schreibt sie „Stanel“, der „Kranz“ wird zu „Gaze“.

Es ist wie verhext: Wenn sie „rollt“ schreiben soll, steht „Rot“ auf dem Papier. Statt „Stall“ schreibt sie „Stanel“, der „Kranz“ wird zu „Gaze“. Die Schrift selbst macht der Neunjährigen dabei keine Probleme. Damit sei sie aber eine Ausnahme, erklärte der Potsdamer Psychologieprofessor Günter Esser am vergangenen Sonntag im Alten Rathaus. Denn trotz ihrem IQ von 103 klappt bei ihr fast nichts mehr, wenn sie den Stift in die Hand nimmt: Das Mädchen hat eine Lese-Rechtschreibstörung (LRS), ist Legasthenikerin.

Zwischen fünf und sechs Prozent der Bevölkerung leide an dieser von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannten „umschriebenen Entwicklungsstörung“, sagte Esser, Geschäftsführer der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung, in der Sonntagsvorlesung. Obwohl die Betroffenen normal intelligent sind und weder neurologische Erkrankungen, wie zum Beispiel Schwerhörigkeit, noch psychologische Störungen aufweisen, liegen sie in der Sprachentwicklung deutlich zurück. Nach WHO-Definition ist Legastheniker, wer normal intelligent ist, aber mit seinen Rechtschreibleistungen zu den schlechtesten sieben Prozent gehört.

Bleibt die Störung unbehandelt, drohen den Betroffenen außer Schulversagen und Schwierigkeiten beim Berufseinstieg sogar eine kriminelle Laufbahn. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer Längsschnittstudie, bei der Esser knapp 400 Mannheimer Jugendliche 17 Jahre lang begleitet hat. Im Alter von 13 Jahren besuchten demnach nur 3,2 Prozent der Jugendlichen mit LRS das Gymnasium, über die Hälfte saß in der Hauptschule und 16,1 Prozent landeten auf der Sonderschule. Unter „normalen“ Jugendlichen waren dagegen 44,2 Prozent Gymnasiasten, 27,6 Prozent Hauptschüler und keine Sonderschüler. Ein erheblicher Teil der 32 Rechtschreibgestörten aus Essers Studie befand sich sogar auf dem Weg in die Kriminalität: 25 Prozent von ihnen waren vom Jugendgericht wegen einer Straftat verurteilt worden. Der entsprechende Prozentsatz bei „normalen“ Jugendlichen liege bei 5,3.

Esser, der speziell Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ausbildet, sieht deswegen eine „Behandlungsnotwendigkeit“ für Kinder mit LRS. Heilen könne man die Störung zwar nicht, so der Psychologe. Aber den Kindern, die nach konventionellem Schulmaßstab ständig versagen, könne zu einem gestärkten Selbstwertgefühl verholfen werden. Therapieziel sei, dass sie „den Schulabschluss kriegen, der ihrer Begabung entspricht“. Zwei Mal zwei Stunden Therapie pro Woche zeigten bereits einen „deutlichen Effekt“, so Essers Erkenntnis aus der Evaluation des Behandlungsverlaufs von 500 Patienten an vier Berliner Instituten. Voraussetzung für den Therapieerfolg sei eine gründliche Diagnostik, die Arbeit in leistungshomogenen Kleingruppen sowie ein günstiges Lernklima. In Absprache mit der Schule müsste zudem die Benotung der Rechtschreibung ausgesetzt werden. Zusätzliche Störungen, zum Beispiel im Sozialverhalten, müssten außerdem behandelt werden.

In Potsdam kümmert sich Essers Team an der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung in der Gutenbergstraße 67 momentan um etwa 60 Kinder. Die Behandlungskosten von acht Euro pro Stunde bezahlen in zwei Dritteln der Fälle die Eltern, ansonsten das Jugendamt. Bei der Arbeit setze er auf „kleinschrittige Übungen nach sonderpädagogischen Grundprinzipien“. Auch verhaltenstherapeutische Methoden, bei denen „richtiges Verhalten“, also richtige Schreibung, direkt mit Cent-Stücken belohnt wird, setzt Esser mit Erfolg ein, wie er berichtete. Alternativen Methoden und computergestützten Verfahren gegenüber zeigte er sich eher skeptisch: „Lesen und Schreiben lernt man nur durch Lesen und Schreiben“, so sein Grundprinzip. Jana Haase

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