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Es ist ein Jahrhundertereignis gewesen: Vor 60 Jahren ist der Bodensee das letzte Mal komplett zugefroren. „Seegfrörne“ wird das Wetterphänomen genannte, das Europas größtes Binnengewässer im Februar 1963 in eine riesige Schlittschuhbahn verwandelt hat.

© dpa/Harry Flesch

Tagesrückspiegel – Heute vor 60 Jahren: Als der ganze Bodensee von Eis bedeckt war

Bei einer Prozession am 12. Februar 1963 wurde eine Heiligenfigur von Hagnau nach Münsterlingen getragen – über den komplett zugefrorenen Bodensee. Das Wetterphänomen war ein Jahrtausendereignis.

Eine Kolumne von Gerd Appenzeller

Es war ein fast unwirklicher Anblick, der sich am 12. Februar 1963, vor 60 Jahren, in den Morgenstunden am Bodenseeufer bot. Im Nebel, bei eisigen Temperaturen, machte sich im schweizerischen Münsterlingen eine Prozession auf den Weg ins deutsche Hagnau. Hagnau, auf der anderen Seite des Bodensees! Eine Strecke von 8,5 Kilometern, über das Eis. Darunter der See, an dieser Stelle 254 Meter tief.

Die Menschen, die mit Kirchenfahnen loszogen, wollten ein Gelübde erfüllen. Pfarrer und Messdiener führten eine hölzerne Statue des Evangelisten Johannes mit sich. 133 Jahre zuvor, 1830, war diese Figur von Hagnauer Bürgern aus der dortigen Kirche nach Münsterlingen getragen worden, auch über das Eis.

Da war der ganze See das letzte Mal zugefroren gewesen. Und davor 1796. Damals hatten Münsterlinger den hölzernen Johannes gestiftet. Ließen ihn vom ortsansässigen Kunstschreiner arbeiten und bemalen. Sie legten den Schwur ab, diesen Johannes über das Eis nach Hagnau zu tragen, die ganzen 8,5 Kilometer.

Und bei der nächsten Seegfrörne, so nennen sie es am See, wenn alles mit Eis bedeckt ist zwischen beiden Ufern, sollte die hölzerne Büste feierlich zurückgetragen werden.

So kam der Johannes 1830 nach Münsterlingen, fand einen Platz in der Kirche. Eine Tafel erinnerte an die Legende. Der Johannes wartete stumm, Jahrzehnt um Jahrzehnt, auf die nächste Seegfrörne. Und als die 1963 kam, erinnerten sich die Nachfahren an das Gelübde und trugen den Johannes wieder nach Hagnau. Da steht er heute, und wartet auf das nächste Zufrieren des ganzen Bodensees.

Bei der letzten „Seegfrörne“ 1963 wird die Holzbüste des Heiligen Johannes bei einer Eisprozession von Hagnau nach Münsterlingen über den komplett zugefrorenen Bodensee getragen.

© dpa/Uncredited

Solche Prozessionen gibt es nicht ohne ein gewisses Gottvertrauen. Ob das Eis halten wird? Da war es ein Geschenk des Himmels, aber vielleicht auch nur die Abenteuerlust von jungen Männern auf der anderen Seeseite, die schon Tage zuvor die Wanderung in der Gegenrichtung, gewagt hatten.

Abenteuerlust hatten die jungen Hagnauer jedenfalls reichlich, die sich am Abend des 5. Februar 1963 zur Chorprobe trafen und danach wohl die Stimmbänder noch ein bisschen anfeuchteten. In der Dunkelheit entstand der Plan, es am nächsten Tag zu wagen: über das Eis in die Schweiz zu wandern.

Am Morgen des 6. Februar brachen sie auf, in zwei Gruppen, Richtung Münsterlingen und Güttingen. Sie sicherten sich mit einem langen Seil, und trugen eine Leiter mit sich. Die zweite Gruppe schnappte sich am Ufer ein Boot und schnallte es auf vier Schlitten.

Trocken kam keiner in der Schweiz an, das Eis war noch brüchig. Aber überlebt haben sie alle, und in der Schweiz wurden sie begeistert empfangen. Und die Münsterlinger fassten den Mut für den Gegenbesuch am 12. Februar.

Eine ausführlichere Geschichte der Seegfrörne von 1963 findet sich hier.

Ob die Heutigen jemals eine Seegfrörne erleben werden? In den vergangenen 1000 Jahren gab es das nur fünf Mal. Und da wusste man noch nichts vom Klimawandel.

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