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Landeshauptstadt: Teil zwei der Revolution

Die Potsdamer Stasi-Zentrale wurde bereits am 5. Dezember 1989 gestürmt – sechs Wochen vor Berlin. Es war auch der Beginn der provisorischen Stadtregierung durch das Bürgerkomitee

Innenstadt - Es war eine Erstürmung in geordneten Formen. So charakterisiert Manfred Kruczek, seinerzeit Bürgerrechtler und Mitglied im Neuen Forum, rückblickend die Ereignisse vom 5. Dezember 1989. „Es ist wie ein Wunder, dass sich alle ausgesprochen diszipliniert verhalten haben“, sagt er. Weder zerbrochene Glasscheiben noch Plünderungen oder auch nur Ausfälligkeiten oder hämische Kommentare habe es gegeben, als Potsdamer Bürger an jenem Nachmittag die Bezirkszentrale der DDR-Staatssicherheit in der Hegelallee in Besitz nahmen. Keine Selbstverständlichkeit, wie historische Bilder aus Berlin, die anlässlich des 25. Jubiläums der Erstürmung dort in diesen Tagen wieder zu sehen waren, zeigen.

Auch in Potsdam war die Stimmung in den Wochen davor angespannt, erinnert sich Kruczek. Nach den großen Demonstrationen durch die Innenstadt habe es immer Demonstranten gegeben, die anschließend zur Bezirkszentrale der DDR-Staatssicherheit in der Hegelallee zogen und dort mit „Stasi raus“-Rufen protestierten. Gerüchte über die bereits begonnene Vernichtung von Stasi-Akten und Nachrichten über die Machenschaften von DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski hatten die Runde gemacht. „Der Druck auf der Straße wurde immer größer“, sagt Kruczek. Gleichzeitig stand die Bürgerbewegung vor einem Balanceakt: „Provozieren wir zu sehr, dann schlagen sie vielleicht zurück.“

Am 3. Dezember, die SED-Führung unter Egon Krenz war zurückgetreten, rief das Neue Forum DDR-weit dazu auf, Kontrollgruppen zu gründen, um zu verhindern, dass Akten vernichtet werden oder Volksvermögen unterschlagen wird. Die ersten Stasi-Besetzungen gab es dann schon am 4. Dezember in Erfurt, Leipzig und in Rathenow. Auch in Potsdam reagierten die Bürgerrechtler schnell.

Manfred Kruczek bekam am Morgen des 5. Dezember einen Anruf vom Potsdamer Bürgerrechtler und Neues-Forum-Mitgründer Rudolf Tschäpe – mit der Bitte, sich an der für den gleichen Tag geplanten Besetzung zu beteiligen. Der erste Weg führte die Bürgerrechtler dann aber zum Rathaus. Eine sechsköpfige Abordnung des Neuen Forums – neben Tschäpe, Reinhard Meinel und Kruczek auch Annette Flade, Heidrun Liepe und Detlef Kaminski – sprach gegen 10.30 Uhr beim damaligen Oberbürgermeister Manfred Bille vor. „Unser Ziel war es, das Leben in der Stadt zu stabilisieren“, erklärt Kruczek.

Zwar waren die Stadträte ausgetauscht worden, es habe jedoch bei den Bürgern kein Vertrauen mehr in die Stadtregierung gegeben. Neuwahlen waren aber erst für Mai 1990 angesetzt. Einen apathischen und hilflosen Eindruck habe Bille an jenem Morgen gemacht, als man ihn nach einem Plan zur Deeskalation der aufgeheizten Stimmung fragte. „Er wirkte fast erlöst, als wir ihm sagten, dass wir das in die Hand nehmen.“ Von Billes Amtsapparat aus riefen die Bürgerrechtler dann Volkspolizei und die Staatsanwaltschaft an und baten um Unterstützung für die geplante Besetzung der Stasi-Zentrale – mit Erfolg. „Die waren schnell zur Stelle und haben kooperiert.“

Gegen 12 Uhr wurden die ersten Bürgervertreter in die Räume in der Hegelallee gelassen, am Abend waren es schon Hunderte, erinnert sich Zeitzeuge Kruczek. „Das sprach sich wie ein Lauffeuer herum.“ Dass es höchste Zeit für die Aktion war, zeigte sich beim Rundgang: Die Aktenvernichtung hatte bereits begonnen, wie verunsicherte Stasi-Mitarbeiter berichteten, Tresore und Schränke waren leer geräumt. Die PNN – damals noch Brandenburgische Neueste Nachrichten (BNN) – druckten tags darauf auf der Titelseite ein Interview mit dem stellvertretenden Stasi-Bezirkschef Dieter Weißbach ab, in dem er unter anderem nach seinem Gehalt, seinem Gewissen und der Zukunft des ebenfalls besetzten Untersuchungsgefängnisses in der Lindenstraße 54/55 befragt wurde.

Für Manfred Kruczek markiert der 5. Dezember den Anfang von „Teil zwei der Friedlichen Revolution“. Am 6. Dezember gründeten die Bürgerrechtler das sogenannte Bürgerkomitee „Rat der Volkskontrolle“ – eine provisorische Übergangsregierung für die Stadt bis zur Neuwahl am 7. Mai. „Die Funktion der Stadt sollte störungsfrei aufrechterhalten werden“, erklärt Kruczek. 20 Mitglieder hatte das Gremium – zehn gehörten der Bürgerbewegung an, zehn den etablierten Blockparteien und DDR-Organisationen. Jeden Donnerstag traf man sich zur Sitzung im Stadthaus. Außerdem war an sechs Tagen die Woche ein Bürgerbüro geöffnet, das Hinweise auf Stasi-Tätigkeiten oder Korruption entgegennahm. 566 Bürgerhinweise bekommt das Gremium in den 111 Tagen seiner Amtszeit. Einer der ersten gefassten Beschlüsse des Bürgerkomitees: Zivildienstleistende wurden zur Unterstützung in das damalige Bezirkskrankenhaus geschickt.

Die Bürgerkomitees, die es so auch in den anderen Städten gab, seien wichtiger Baustein für die Entstehung demokratischer Strukturen in Brandenburg gewesen, betonen Bürgerrechtler wie Manfred Kruczek immer wieder. Umso enttäuschter sind die damaligen Akteure, dass der 5. Dezember auch 25 Jahre nach dem Mauerfall nicht Teil der offiziellen Erinnerungskultur geworden ist.

Anders als in Berlin, wo in diesem Wochenende das Jubiläum der Erstürmung der Stasi-Zentrale gefeiert wird, war es in Potsdam im Dezember still. Kruczek, der sich auch im Forum-Verein zur kritischen Aufarbeitung von DDR-Geschichte im Land Brandenburg engagiert, spricht von einem „gedenkpolitischen Aussetzer“. Man habe Stadt und Land in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Bedeutung des Tages hingewiesen – ohne Ergebnis. Dabei sei die Geschichte des Potsdamer Bürgerkomitees – etwa dank der Arbeit von Gisela Rüdiger – gut erforscht. „Das muss stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken“, sagt Kruczek.

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