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Schriftsteller Hans Marchwitza.

© ullstein bild

Literatur auf der Spur: Gefördert, gepriesen, vergessen

In der PNN-Sommerserie gehen wir den Spuren von Autor:innen nach, die einst zeitweise in Potsdam lebten. Heute: Arbeiterschriftsteller Hans Marchwitza – in der DDR gefeiert, im Westen verachtet.

Potsdam - Als Hans Marchwitza 1965 in Potsdam stirbt, schenkt ihm „Die Freiheit“, eine Tageszeitung der SED, fast eine ganze Seite. Ein umfänglicher Nachruf der Parteiführung ist hier zu lesen, außerdem noch ein weiterer des Deutschen Schriftstellerverbandes der DDR, damals noch unter dem Vorsitz von Anna Seghers. Zentralkomitee (ZK), Staatsrat und Ministerrat trauern „um einen der Besten“. Seghers schreibt in einem Text mit dem Titel „Unser Hannes“: „Wir wissen, daß sein Andenken und sein Werk immer mit uns sein werden.“

Immer ist ein großes Wort. Hans Marchwitza konnte es nicht ausfüllen. Einst erschienen seine Werke in hoher Auflage, waren Schulstoff. Drei Nationalpreise der DDR erhielt er. Aber heute? In Buchhandlungen ist Marchwitza nicht mehr zu finden, auch nicht in Babelsberg, wo er knapp zwanzig Jahre bis zu seinem Tod 1965 lebte. Seine Bücher gibt es nur noch antiquarisch, einzige Ausnahme: „Sturm auf Essen“, sein Romandebüt von 1930 über die Kämpfe im Ruhrgebiet 1920. 

Marchwitzas Werk ist nicht gut gealtert

Man kennt den Namen Marchwitza – sein Werk kennen die wenigsten. Und wer heute hineinliest, ahnt: Es ist nicht gut gealtert. Warum? Das beschreibt am besten womöglich das ZK in seinem Nachruf: „Getragen von leidenschaftlichem Optimismus und menschlicher Wärme, schrieb er mit wachsender Meisterschaft für die soziale und nationale Befreiung seines Volkes.“

In Potsdam führt Marchwitza heute ein Doppelleben. Gelesen hat ihn fast niemand, aber sein Name in aller Munde: Den Hans-Marchwitza-Ring in Zentrum-Ost gibt es noch immer. Bis 1995 war auch das zentrale Kulturhaus im Alten Rathaus nach ihm benannt. Hier wurden in den siebziger Jahren auch Ausstellungen von Künstler:innen gezeigt, die mit Staatskunst nichts am Hut hatten. Eine dortige Ausstellung zu französischer Fotografie erwähnt 1981 auch der Tagesspiegel in Westberlin. Anders sieht es mit Hans Marchwitza selbst aus: Er kommt als Schriftsteller in den Archiven des Tagesspiegel kaum vor. Sein Tod wird immerhin knapp vermeldet, als Tod des „SED- Schriftstellers“.

Reich-Ranicki fällt vernichtendes Urteil

Das zeigt: Auch die offizielle Marchwitza-Rezeption führte ein Doppelleben. Die Grenze verlief entlang der politischen Systeme. In der DDR-Presse ist er der „Dichter des Volkes“, „Einer von uns“, erfährt höchste Ehren. In der BRD schreibt Marcel Reich-Ranicki 1964, anlässlich der Verleihung des dritten Nationalpreises an Marchwitza: „Kein einziges Buch dieses Autors wurde in der Bundesrepublik verlegt. In keiner westlichen Anthologie ist er vertreten, in hiesigen Nachschlagebüchern wird er nicht erwähnt.“ Reich-Ranickis Urteil ist vernichtend. Marchwitza könne kaum als Schriftsteller gelten und spiele „genau genommen lediglich eine Rolle“. Viele in der DDR wüssten das. „Nur er selber weiß es nicht.“

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Welche Rolle das Reich-Ranicki zufolge war, bringt er in einem Wort auf den Punkt: die als „Renommierproletarier“. Der jüngeren Generation in der DDR sollte nach Kriegsende „ein vorbildlicher, im Kampf ergrauter proletarischer Schriftsteller vorgeführt werden“, so der Kritiker, und da die meisten „schon ihrer sozialen Herkunft wegen nicht in Betracht kamen“, sei die Wahl auf ihn, Marchwitza, gefallen. Der literarische Erfolg des Arbeiterschriftstellers ist für Reich-Ranicki folglich nicht mehr als eine „Propagandakomödie“.

Marchwitza kämpft im Spanischen Bürgerkrieg

Tatsächlich ist die Biografie von Hans Marchwitza durch und durch proletarisch. Geboren 1890 im oberschlesischen Scharley in einer Bergarbeiterfamilie, war er bereits mit 14 Jahren selbst unter Tage. Ab 1920 arbeitet er im Ruhrgebiet, nimmt an Streiks teil, landet auf Schwarzen Listen, wird arbeitslos. Seit 1919 ist er Mitglied der USPD, seit 1920 der KPD. In dieser Zeit entstehen erste Texte, veröffentlicht in der Zeitung „Ruhr-Echo“ der Kommunistischen Partei, gefördert von Redakteur Alexander Abusch, der später in der DDR ein ranghoher Kulturfunktionär werden sollte. 1933 verlässt Marchwitza Deutschland in Richtung Schweiz, kämpft im Spanischen Bürgerkrieg, wird in Frankreich interniert und flieht 1941 in die USA, wo er Hilfsarbeiter ist. 1946 kehrt er zurück nach Deutschland.

Als er 1947 in Babelsberg ankommt, ist er „ein Held des antifaschistischen Freiheitskampfes“. So steht es auf der Sonderbriefmarke von 1966 mit Marchwitzas Konterfei. Ein Text der „Berliner Zeitung“ beschreibt ihn 1949 als weißhaarig und jugendfrisch, über das von ihm begründete Kulturarchiv in Potsdam sagt er damals: „Ich fühle mich wie in einer Familie.“ 60 kulturell interessierte und tätige Menschen fänden sich in dem Kreis jeden Donnerstag zusammen.

Ein väterlicher Wegweiser für die Jungen

Der Vielarbeiter berichtet auch über einen Wettstreit mit Maler und Kulturfunktionär Otto Nagel: in sechs Monaten will er eintausend Seiten schreiben. 1950 gehört er zu den Mitbegründern der Ostberliner Akademie der Künste, im gleichen Jahr bekommt er den ersten Nationalpreis. Er begreift sich als väterlicher Wegweiser für die Jungen. „Träumen ist schön, aber das Leben muss in uns träumen“, sagt er der „Berliner Zeitung“ damals. Und, an die Jugend gerichtet: „Greift mit breiten Armen in das Erleben, nicht mit kurzen Ärmchen, und allzu bescheiden.“

Wo Hans Marchwitza in Potsdam zunächst lebte, ist nicht bekannt. 1956 zieht er in das neu gebaute Haus in der Rosa-Luxemburg-Straße 27, in dem er knapp zehn Jahre später sterben wird. Eine Gedenktafel erinnert dort an ihn. Im Exil hatte er „Die Kumiaks“ geschrieben, die Geschichte eines Bauern, der ins Ruhrgebiet zieht und Bergmann wird. Für Reich-Ranicki ein „primitives und naives Buch“, aber auch „sein bestes“. In den USA war der autobiografische Roman „Meine Jugend“ entstanden, den Bertolt Brecht immerhin als „Meisterwerk eines Dichters“ bezeichnet haben soll.

Eine Gedenktafel erinnert am ehemaligen Wohnhaus von Hans Marchwitza in der Rosa-Luxemburg-Straße in Babelsberg an den Arbeiterdichter. 
Eine Gedenktafel erinnert am ehemaligen Wohnhaus von Hans Marchwitza in der Rosa-Luxemburg-Straße in Babelsberg an den Arbeiterdichter. 

© Andreas Klaer

In Babelsberg schreibt Marchwitza fleißig weiter, immer im Sinne der „einzigen, besten und mütterliche Betreuerin“ – der Partei SED. Es entstehen Erzählungen, Gedichte, Romane – meistens angesiedelt an der heimischen Ruhr. Unter anderem die Fortsetzung der Kumiak-Trilogie mit „Die Heimkehr der Kumiaks“ (1952) und „Die Kumiaks und ihre Kinder“ (1959), eine Ausnahme ist „Roheisen“ (1955) über den Aufbau des Eisenhüttenkombinats „J. W. Stalin“ in der DDR. 

Dafür gibt es wieder einen Nationalpreis, was, so Reich-Ranicki, „einer höhnischen Brüskierung der in der DDR wohnhaften Schriftsteller“ gleichkam. Sogar in der „Berliner Zeitung“ heißt es, an dem Roman würden „nicht nur die Fortschritte unserer Gegenwartsliteratur“ deutlich, sondern auch gleichzeitig die Hemmnisse, mit denen unsere Schriftsteller zu ringen haben.“ Zu viel Werkbau, zu viele Charaktere – zu wenige Individuen.

1960 wurde er Ehrenbürger Potsdams

Marchwitza behauptet vielleicht auch gegen solche Kritik trotzig die Position des Arbeiterschriftstellers. In einem Gedicht schreibt er: „Ich schreibe nicht fein, ihr Feinen/ ich weiß:/ Das Schöne fehlt meinem Gedicht/ Es riecht nach Not und Blut und Schweiß/ Doch schwarz ist schwarz/ und nicht grün oder weiß.“ 

Pünktlich zum 70. Geburtstag 1960 macht die Stadt Potsdam ihn zum Ehrenbürger. Sechs Jahre später erhält das neue Kulturhaus am Alten Markt seinen Namen. Die Fassade ziert ein Marchwitza-Zitat: „Kultur ist jeder zweite Herzschlag unseres Lebens.“ 1995 wird es abmontiert. Heute erinnert es im Treppenhaus des Potsdam Museums an eine Zeit, als die richtige Gesinnung genügen konnte, um als Nachfolger Goethes zu gelten. Auf „einer höheren Grundlage“ freilich, einer sozialistischen.

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