zum Hauptinhalt
Das Foto zeigt Hannah Arendt 1933, als sie Deutschland verließ. 

© mauritius images / Alamy Stock P

Literatur auf der Spur: Szene einer Ehe

In unserer Sommerserie gehen wir den Spuren von Autor:innen nach, die einst zeitweise im Potsdam lebten. Heute: Hannah Arendt, die in Nowawes Günther Stern heiratete.

Potsdam - Seit 20 Jahren lebten Martina und Günther Kruse in Babelsberg, als sie ihr Haus noch einmal neu kennenlernten. Im August 2012 war das, damals klingeln zwei Radfahrer an ihrer Tür. Ob sie das Haus sehen dürften, in dem die Verfasserin der „Banalität des Bösen“ einst gelebt hatte? Ein Irrtum, ist sich Günther Kruse sicher. Hannah Arendt in Babelsberg – das hätte er doch wissen müssen. „Das kollektive Gedächtnis müsste doch in so einer kleinen Straße noch funktionieren“, sagt er sich.

Kruse recherchiert und entdeckt: kein Irrtum. Er findet einen Brief des Philosophen Karl Jaspers, Arendts Doktorvater, an Martin Heidegger, in dem Jaspers um ein Zeugnis für Arendt bittet. „Sie können es an mich senden“, steht Kruse zufolge da, „oder ihr direkt: Hannah Arendt, Neubabelsberg bei Berlin. Merkurstr. 3 bei Luer.“ Geschrieben am 20. Juni 1929.

Wann Arendt wegzog? Unbekannt

Seit wann genau Hannah Arendt mit Günther Stein in Nowawes lebte, warum gerade dort – und wann sie wieder wegzog: All das ist unbekannt. In der zum Standardwerk avancierten Biografie von Elisabeth Young-Bruehl ist von Babelsberg, das erst ab 1939 zu Potsdam gehören sollte, nur am Rande die Rede – als „kleine Stadt außerhalb Berlins“. Den Nachforschungen Günther Kruses ist es zu verdanken, dass seit 2020 eine Plakette am Haus an Arendt erinnert, enthüllt zum 115. Geburtstag. Seit 2017 ist auch ein Gymnasium in Potsdam-West nach ihr benannt.

Eine Station von vielen. 23 Jahre jung war Hannah Arendt, als sie 1929 in die Merkurstraße 3 zog.
Eine Station von vielen. 23 Jahre jung war Hannah Arendt, als sie 1929 in die Merkurstraße 3 zog.

© Ottmar Winter

Die Frau, die irgendwann 1929 in der Merkurstraße 3 in Nowawes Quartier bezieht, ist schwer zu fassen. Eine junge Frau von erst 23 Jahren, einerseits. Andererseits bereits eine promovierte Philosophin, die einen der bekanntesten Philosophen der Zeit zu feurigen Liebesbriefen inspiriert hatte – und bald ist sie auch Ehefrau. Im Januar des Jahres 1929 hatte sie, verkleidet als „arabisches Haremsmädchen“ (Young-Bruehl) in Berlin auf dem Maskenball einer Marxistengruppe den ehemaligen Studienfreund Günther Stein wiedergetroffen. Im September heiraten die beiden. Im Standesamt Nowawes.

Eine Begegnung wie ein Erdbeben

Hinter Hannah Arendt liegen damals aufwühlende, entscheidende Studienjahre. In Marburg war mit dem Wintersemester 1924/25 Martin Heidegger in ihr Leben getreten – und sie in seins. Eine Begegnung, die man sich offenbar als Erdbeben vorstellen muss. Er war Professor, sie blutjunge Studentin, gerade 18 Jahre alt. „Das Dämonische hat mich getroffen“, schreibt der 35-jährige Heidegger im Februar 1925. Gemeint ist die Liebe. Für die junge Studentin ein Liebessog, der sie „an den Rand des Selbstverlustes führt“, wie Wolfram Eilenberger in dem Begleitband zu der Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ schreibt. Im Sommer 1926 verlässt Arendt Marburg, geht zu Karl Jaspers nach Heidelberg, wo sie promovieren wird – über den Liebesbegriff bei Augustin, einem christlichen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts.

[Was ist los in Potsdam und Brandenburg? Die Potsdamer Neuesten Nachrichten informieren Sie direkt aus der Landeshauptstadt. Mit dem Newsletter Potsdam HEUTE sind Sie besonders nah dran. Hier geht's zur kostenlosen Bestellung.]

Die Liebe zu Günther Stein, der sich später Günther Anders nennen wird, scheint von etwas weniger existenzieller Kraft gewesen zu sein – aber auch hier geht alles schnell. Nach einem Monat ziehen sie zusammen. Im Sommer bewirbt sich Hannah Arendt mit der besagten Hilfe von Heidegger bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft um ein Stipendium. Sie will über die deutsche Romantik schreiben – es wird am Ende ein Buch über Rahel Varnhagen werden, Arendts erste bedeutende Publikation. Daran könnte sie auch in Nowawes gearbeitet haben – elf fertige Kapitel nimmt sie mit in die Emigration. Sie beendet es erst 1938, im Exil.

Zeit in Potsdam markiert eine Übergangsphase

Vor allem arbeitet Arendt 1929 an der Publikation ihrer Dissertation. Das Stipendium bekommt sie, aber es sichert nur ein sehr geringes monatlichen Einkommen. In Berlin wohnt sie mit Günther Stern in einem Großraumstudio, das sie tagsüber verlassen müssen, um einer Tanzschule Platz zu machen. Günther Kruse vermutet, dass sie in Nowawes unter dem Dach lebten, aus Kostengründen. Nur ein Raum und Abstellfläche. Fenster zum Garten.

Die Zeit in Potsdam markiert eine Übergangsphase in Arendts Leben, so viel lässt sich sagen, auch ohne die genauen Eckdaten zu kennen. Eine Phase der Politisierung, auch bei Arendt. Ein Scharnier zwischen der Zeit des intensiven intellektuellen, erotischen Erblühens – und der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus, immer stärker spürbaren Antisemitismus, die Arendt letztlich 1933 aus Deutschland vertreiben wird.

Hochzeit im kleinsten Kreis

Aber erst einmal wird Hochzeit gefeiert, im kleinsten Kreis: nur Eltern, eine Freundin, zwei Trauzeugen. An die Institution der Ehe glaubt das Paar offenbar nicht wirklich, „Sie hatten sich überlegt, dass es unkomplizierter wäre, in Frankfurt als Ehepaar aufzutreten“, heißt es bei Young-Bruehl lapidar. „Beide waren sie Juden aus assimilierten Familien der Mittelschicht; sie hatten eine ähnliche philosophische Ausbildung und teilten eine geistige Haltung.“ Beide verehren zudem Heidegger und Jaspers, sie schreiben gemeinsam einen Text über Rilkes „Duineser Elegien“. Jahrzehnte ergänzt Arendt, Stein sei ein lieber und freundlicher Mann gewesen, der ihr Zitronen und gute Laune brachte, wenn sie krank war – und ein Mann, den ihre Mutter, Martha Arendt, sehr schätzte.

Am früheren Wohnhaus von Hannah Arendt ist eine Gedenktafel angebracht. 
Am früheren Wohnhaus von Hannah Arendt ist eine Gedenktafel angebracht. 

© Andreas Klaer

In Frankfurt am Main hofft der frischgebackene Ehemann Stein auf eine Karriere bei Theodor W. Adorno – ein Vorhaben, das scheitert. Was zu einer dauerhaften Antipathie Arendts Adorno gegenüber führt und das Paar zurück nach Berlin bringt. Auch die Ehe scheitert bereits, bevor es Nazi-Deutschland auf verschiedenen Wegen verlässt. Erst 1937 wird sie jedoch offiziell geschieden.

Arendt liest Marx und Trotzki

Seit 1930 beschäftigt sich Hannah Arendt intensiv mit Rahel Varnhagen, einer Zeitgenossin Goethes, die wie Arendt Jüdin war und einen legendären Salon in Berlin führte. In der Auseinandersetzung mit Varnhagen beginnt auch Arendts tiefe Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Schon damals, in Bezug auf Varnhagen schreibt sie, „dass nämlich auch das Judenschicksal gar nicht so zufällig und so absonderlich war, dass es im Gegenteil den Zustand der Gesellschaft genau widerspiegelte, die Lücken als positive schreckliche Realität genau herausmodellierte.“

Nach 1930 wird Hannah Arendts Denken „zusehends politischer und historischer“, schreibt die Biografin Young-Bruehl. Arendt verbringt viel Zeit mit dem Zionisten Kurt Blumenfeld und seinem Kreis, teilweise arbeitet sie mit ihm zusammen. Gleichzeitig beginnt sie, Marx und Trotzki zu lesen. Günther Stern wendet sich angesichts des erstarkenden Nationalsozialismus marxistischen Kreisen um Bertolt Brecht zu – Hannah Arendt intensiviert ihre Tätigkeiten in zionistischen Kreisen. Die beiden entzweien sich. „Er war ihr Gefährte für den Tag, jedoch nicht für die Nächte ihrer Träume“, urteilt Young-Bruehl. Dass Hannah Arendt dunkle Havanna-Zigarren raucht, die Kurt Blumenfeld ihr mitgebracht hatte, gefällt ihm nicht. Sie raucht sie gern.

Günther Stern flieht im Februar 1933 nach Paris, Hannah Arendt etwas später mit ihrer Mutter über „die grüne Front“, den dichten Wald des Erzgebirges. Zuvor war sie in Berlin verhaftet worden und nur mit viel Glück wieder freigekommen. Ihre Freilassung wird, so sagt es später die Jugendfreundin Anne Mendelssohn Weil, „mit der größten Sauforgie unseres Lebens“ gefeiert. Hannah Arendt flieht nach Prag, nach Genf, Paris und 1941 schließlich in die USA. Bis 1951 wird sie staatenlos sein. Sie wird erneut heiraten. Sie wird den Prozess des NS-Massenmörders Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem beobachten und den Begriff des „banalen Bösen“ prägen. Sie wird zu einer der wichtigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false