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Mit der VR-Brille kann man in den Erlebnisbericht von Gerhart Seger aus dem Konzentrationslager Oranienburg eintauchen. Alle vier Prototypen des Projekts Spur.Lab können in der Dauerausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) ausprobiert werden.

© Andreas Klaer

Digitale Erinnerungskultur: Der Flut der Bilder etwas entgegensetzen

Beim Projekt Spur.Lab haben brandenburgische Gedenkstätten mit Kunst- und Medienschaffenden die Möglichkeiten digitaler Erinnerung ausgelotet. Vier Prototypen sind jetzt in Potsdam zu erleben.

In roter Farbe steht der Titel auf dem schmalen Band: „Oranienburg“. Blutstropfen scheinen sich von den Buchstaben zu lösen. „Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten“ lautet der Untertitel des Werkes von Gerhart Seger aus dem Jahr 1934. Der Sozialdemokrat zählte zu den ersten Reichstagsabgeordneten, die im März 1933 von den Nationalsozialisten in sogenannte „Schutzhaft“ genommen wurden. Zunächst wurde er in Dessau festgehalten, seit Juni 1933 im Konzentrationslager in der Innenstadt von Oranienburg. Ihm gelang die Flucht.

Von dem Lager ist heute bis auf Reste einer Mauer und eine DDR-Gedenktafel nichts mehr erhalten. Mittels einer VR-Brille können Besucherinnen und Besucher im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) in Potsdam nun Segers Buch virtuell „aufschlagen“ und eintauchen in seinen Bericht.

Per VR-Brille durchs Konzentrationslager

„Blackbox“ heißt die Virtual-Reality-Anwendung. Sie ist eine von vier Prototypen zur digitalen Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus, die im Rahmen des Projekts Spur.Lab entstanden ist. Am Donnerstag wurden die Ergebnisse des 2020 gestarteten gemeinsamen Vorhabens von HBPG, Filmuniversität Babelsberg und der Brandenburgischen Gedenkstättenstiftung in Potsdam vorgestellt. Besucher in der HBPG-Dauerausstellung können alle vier Prototypen dort ab sofort selbst probieren.

Der Prototyp „Zeitschichten“ wurde für einen Rundgang im Konzentrationslager Sachsenhausen entwickelt, eine ortsunabhängige Version kann in Potsdam probiert werden: Hier etwa wird durch Strichmännchen vorstellbar, wie viele Menschen zu verschiedenen Zeiten auf dem Areal inhaftiert waren.
Der Prototyp „Zeitschichten“ wurde für einen Rundgang im Konzentrationslager Sachsenhausen entwickelt, eine ortsunabhängige Version kann in Potsdam probiert werden: Hier etwa wird durch Strichmännchen vorstellbar, wie viele Menschen zu verschiedenen Zeiten auf dem Areal inhaftiert waren.

© Andreas Klaer

An Segers Buch erscheinen dann per VR-Brille Lesezeichen mit Stichworten, die man anwählen kann, um entsprechende Passagen zu hören. Dabei findet sich der Besucher selbst in das schemenhaft angedeutete Konzentrationslager versetzt, beschriebene Details bauen sich wie gezeichnet in der 3-D-Umgebung auf, selten ist auch ein Foto zu sehen. Immer wieder leuchtet ein roter Strich auf, der auf einen schwarzen Kubus zuläuft - das Zimmer Nummer 16, in dem die Inhaftierten grausam gefoltert werden. Im Laufe der Zeit kommt der virtuelle Besucher der „Blackbox“ immer näher. Betreten kann er den Raum aber nicht, auch nicht hineinschauen. Er stellt „eine Grenze des Darstellbaren“ dar, wie die beiden Macher Katja Pratschke und Gustáv Hámos erklären.

Die Potsdamer Bettina Loppe war Projektleiterin des Spur.Lab.
Die Potsdamer Bettina Loppe war Projektleiterin des Spur.Lab.

© Andreas Klaer

Zwei andere Prototypen funktionieren per iPad oder Smartphone: Über die Geräte können beim Rundgang durch die Gedenkstätten Ravensbrück oder Sachsenhausen zusätzliche Informationen in Form von Videos mit Zeitzeugen oder Dokumenten, Fotos und Zeichnungen abgerufen werden. Augmented Reality, erweiterte Realität, heißt das Prinzip. Der vierte Prototyp namens „Horizon“ eröffnet per App vom jeweiligen Standpunkt des Anwenders aus den Horizont hin zu deutschen und europäischen Orten des NS-Terrors. Beispielhaft kann man sich entlang der Lebensgeschichten von 15 Menschen bewegen und deren Lebensstationen anhand von Dokumenten und Fotos nachvollziehen.

Mit „Horizon“ kann man die Lebensgeschichten von 15 NS-Verfolgten über verschiedene Stationen verfolgen - eine App soll zeitnah kostenlos verfügbar gemacht werden.
Mit „Horizon“ kann man die Lebensgeschichten von 15 NS-Verfolgten über verschiedene Stationen verfolgen - eine App soll zeitnah kostenlos verfügbar gemacht werden.

© Andreas Klaer

Erinnerungskultur und Bildungsarbeit müssen digitaler werden, machte Kulturministerin Manja Schüle (SPD) in ihrem Grußwort deutlich. Sie verwies auf die Flut an Bildern, Nachrichten und Gerüchten, die sich im Internet in Windeseile weit verbreitet. Als jüngstes Beispiel nannte sie die Reaktionen nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober. Viele Menschen merkten nicht einmal, dass sie judenfeindliche Gerüchte wie aus der Zeit des Nationalsozialismus verbreiteten. „Umso wichtiger ist es, dass professionelle Bildungsarbeit sichtbarer und zugänglicher wird“, mahnt Schüle. Gleichzeitig stehe man vor der Herausforderung, die Geschichte der NS-Zeit bald ohne lebende Zeitzeugen zu erzählen und Jugendlichen nahezubringen. „Heute stehen wir fassungslos vor einer Zeit, in der die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten nötiger ist denn je“, brachte es Spur.Lab-Projektleiterin Bettina Loppe auf den Punkt.

Beteiligte mahnen dauerhafte Finanzierung an

Welche Fragen das aufwirft, davon berichteten die Beteiligten. So galt es auszuloten, wie die gewünschte „kritische Distanz“ in der digitalen Vermittlung aussehen soll, sagte HBPG-Chefin Katja Melzer. Für die Medien- und Erzählexperten der Filmuniversität wiederum sei das Fingerspitzengefühl der Kolleginnen von den Gedenkstätten wichtig gewesen, sagte Daniela Schlütz, die Vizepräsidentin der Filmuni. Denn nicht der ästhetische Effekt oder ein überwältigendes Erlebnis seien das Ziel. Gleichzeitig berühre eine emotionale Ansprache die Menschen aber mehr, wie man aus Rückmeldungen von Jugendlichen erfahren hat. Julia Mai von der Kulturstiftung des Bundes, die das vierjährige Projekt finanziert hat, lobte das digitale Ausprobieren als „Teil eines Öffnungsprozesses, mit dem die Institutionen Gegenwartsbezug und Relevanz herstellen“.

Dafür müssten aber auch langfristig Ressourcen da sein, mahnte Andrea Genest, die Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, an. Über Projekte wie das Spur.Lab gebe es zwar Geld, aber nach Projektende müsse man das Thema dann zusätzlich zur normalen Arbeit schultern: „Fürs Digitale haben wir keine Stellen.“ Die vier Prototypen könnten ausgebaut und mit weiteren Inhalten befüllt werden, wurde klar - aber auch das ist eine Frage der Ressourcen.

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