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Der Dresdner Konzeptkünstler Birger Jesch dokumentiert die Antworten von DDR-Bürgern auf die Kontaktanzeige einer „reifen Dame“ aus dem Westen.

© Andreas Klaer

Avantgarde in Ost und West: Potsdams Fluxus-Museum reißt die Mauer ein

Fluxus wird stets mit der BRD assoziiert, auch am Potsdamer Museum war das bisher so. Jetzt zeigt das Haus mit einer Ausstellung: In der DDR wurde mit ähnlichen Mitteln gearbeitet.

Wenige Monate nach dem Fall der Mauer war im Anzeigenblatt „Zweite Hand“ eine Annonce der besonderen Art zu lesen. „Ohne Tabus!“, hieß es da. „Reife Dame mit Sex-Appeal sucht jungen schönen Mann aus der DDR für erot. Abenteuer. Ganzfoto Bedingung.“ Unterzeichnet von Anna Blume.

Kunstaffine Leser hätten bei dem Namen Anna Blume, geborgt bei Kurt Schwitters, schnell misstrauisch werden können. Tatsächlich verbarg sich dahinter keine reife Dame, sondern der Dresdner Konzeptkünstler Birger Jesch, damals noch keine vierzig Jahre alt. 306 Männer zwischen 18 und 46 Jahren antworteten Birger Jesch, was auch den Künstler selbst überraschte, wie der Verleger Lutz Wohlrab schreibt. Sportler, Bergarbeiter, Ärzte, Theatermitarbeiter: Alle buhlten sie um die Gunst der reifen Dame aus dem Westen.

Eine Art Best-of der Zuschriften ist jetzt im Fluxusmuseum zu sehen. „Fluxus + nonkonform“ heißt die Ausstellung, Untertitel: „Künstlerische Avantgarde in Ost und West“. Diese Richtung ist durchaus ein Novum im Haus. Abgesehen von Werken des Leipziger Künstlers Lutz Friedel war der Osten hier bislang nicht Thema. Das soll sich ändern. „Es ist schade, dass das Museum als Westort in Potsdam wahrgenommen wird“, sagt Kurator Philipp John.

Parallel-Öffentlichkeit und „Kreativer Sozialismus“

Dabei empfinde, so John, der Museumsgründer und Sammler Heinrich Liman, selbst im Osten geboren, eine gewisse Verbundenheit mit der DDR. Auch deswegen wurde Mary Bauermeisters 66 Meter langem schwarzrotgoldenem „Zopf der Geschichte“, Joseph Beuys’ Multiples aus der DDR-Produktion (von Kerzen bis Rote-Grütze-Pulver) und Bazon Brocks „Hase als Einheitstier“ jetzt Ostbesuch zur Seite gestellt: Carlfriedrich Claus, die Künstlergruppe „Clara Mosch“ oder Birger Jesch.

Man nannte sich Pleinair-Künstler. Darin wollte man sich auch stark vom Westen abgrenzen.

Kurator Philipp John

„Wenn wir von Fluxus reden, assoziieren wir das stark mit der alten BRD und Westberlin, mit Beuys und anderen“, sagt Kurator John. „Aber in der DDR wurde mit ganz ähnlichen Mitteln gearbeitet. Die ähnlichen künstlerischen Mittel tauchten also auch in der DDR auf, etwa 19 bis 20 Jahre später als in der BRD.“ Was in der BRD als Fluxus-Kunst galt, hieß in der DDR anders. „Man nannte sich Pleinair-Künstler“, sagt John. „Darin wollte man sich auch stark vom Westen abgrenzen.“

Was Pleinair und Fluxus aber einte: „Es waren Kunstformen, die nicht staatskonform waren.“ Was auf beiden Seiten der Mauer sehr unterschiedliche Konsequenzen hatte. Während Fluxus im Westen die Museen eroberte, fand Pleinair in der DDR, was John „eine Art Parallel-Öffentlichkeit“ nennt. In Kirchen und Galerien.

Als Beispiel dafür zeigt das Fluxus-Museum das „Herakles-Konzept“ des Filmemachers Lutz Dammbeck, das in Form von Performances in der Galerie „Oben“ in Karl-Marx-Stadt für Eingeweihte Kultstatus errang. Von Hartwig Ebersbach, der 2017 auch in der Schau „Hinter der Maske“ im Barberini vertreten war und in den 1980er Jahren an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst Experimentelle Kunst unterrichtete, ist ein großformatiges Gemälde zu sehen.

Auch Ebersbachs erster Schüler ist in Potsdam anzutreffen: Hans-Joachim Schulze, Gründer der „Gruppe 37,2“ und Kunsthistoriker Christoph Tannert zufolge einer der wenigen Künstler in der DDR, „der das intellektuelle Vermögen, die Sprachgewalt und den Mumm hatte, den permanenten Tabubruch der Grenzüberschreitung zwischen Kunst, Musik, Performance und Theorie zu proklamieren“. Schulze zeigt hier künstlerische Protokolle von Zusammentreffen befreundeter Intellektueller. Die „Gesprächskarten“ sind John zufolge quasi als Utopien zu lesen: Kunst gewordene Versuche eines „Kreativen Sozialismus“.

Ostdeutsche Männlichkeit auf der Suche

Und dann ist da Birger Jesch. Er nahm sich selbst einige Zeit, um eine Form für die nie zur Veröffentlichung bestimmten Briefe zu finden. Erst 1999 ging er damit an die Öffentlichkeit. Die Fotos sind anonymisiert, Texte in Auszügen wiedergegeben. Vor allem die Fotos ergeben in der Bündelung das tragikomische, bedrückende Bild einer ostdeutschen Männlichkeit auf der Suche.

Zu sehen sind Männer, die versuchen, sich zu verkaufen, aber offensichtlich wenig Übung darin haben. Die ungelenk posieren, im Trainingsanzug, im Trabi, auf der Couch oder in der Natur. Viel nackte Haut. Dazu Auszüge aus den Briefen, die, gerade wenn man sie als Analogie auf das Verhalten der Noch-DDR-Bürger gegenüber dem als überlegen empfundenen Westen liest, viel Fremdschampotenzial bergen („Geben Sie mir eine Chance!!“). Der Beitrag von Birger Jesch ist so fesselnd wie abstoßend, und genau darin einer der gelungensten der Schau. Auch weil er zeigt: In Potsdam war zwar in den vergangenen Jahren einiges an DDR-Avantgarde zu sehen, aber das Thema ist alles andere als auserzählt.

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