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Landeshauptstadt: Marke Eigenbau

An diesem Wochenende feiert Potsdams größte Wohnungsbaugenossenschaft ihren 60. Geburtstag. Horst Tent ist seit dem ersten Tag dabei – und wohnt bis heute in dem Haus, das er vor mehr als einem halben Jahrhundert mitgebaut hat

50 Mark im Monat, eine stolze Summe für einen Schlosser. Gut vier Jahre lang musste Horst Tent zahlen, bis er seinen Anteil von 2500 Mark abgestottert hatte. Er ist Genossenschafter der ersten Stunde, sein Mitgliedsbuch hat die Nummer 16. Vor 60 Jahren, am 18. Mai 1954, trat Tent der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft „Karl Marx“ bei. Es war der Gründungstag der Genossenschaft, die mittlerweile Potsdams größte ist. Und Horst Tent wohnt bis heute in dem Haus, das er vor mehr als einem halben Jahrhundert selbst mitgebaut hat. „Die Leute können sich ja gar nicht mehr vorstellen, was das heißt“, sagt der 85-Jährige.

Es duftet nach Kiefern und Ferien an diesem sonnigen Freitagmorgen in der Stahnsdorfer Straße. Fünf dreigeschossige „Karl Marx“-Wohnblöcke gibt es auf dieser Seite der Straße. „Unser Block stand als erster“, sagt Horst Tent. Als er mit seiner Frau Dora im Oktober 1956 einzog, waren die Bäume rundherum halb so hoch und sein erster Sohn gerade mal vier Wochen alt, erinnert er sich. Heute hat Tent drei Enkel und eine Urenkelin, seine Frau aber hat er vor wenigen Wochen verloren. „Am Montag wäre unser 58. Hochzeitstag“, sagt er.

Wenn Tent von den ersten Jahren in Potsdam erzählt, ist es eine andere Welt, die sich auftut. Dort gibt es die Lebensmittel noch auf Marken und Schwerarbeiterkarten für Leute wie ihn. 1952 bekam Tent Arbeit im Karl-Marx-Werk in der Großbeerenstraße und schraubte dort mit den Kollegen im Monat vier Lokomotiven zusammen, die als Reparationsleistung in die Sowjetunion geschickt wurden. Neun Jahre vorher war seine Familie in Berlin-Moabit ausgebombt worden, die Tents kamen in der Nähe von Helmstedt unter, wo Horst Tent in einer Werkstatt das Schlosserhandwerk erlernte. Gerade mal 14 Jahre alt war er, als er sein erstes Lehrlingsgehalt bekam.

In Babelsberg lebte er dann zuerst zur Untermiete in einem möblierten Zimmer. Das wurde schnell zu eng, als er seine spätere Frau, die als Buchhalterin im Karl-Marx-Werk arbeitete, kennenlernte. Aber an eine eigene Wohnung war nicht zu denken. Wohnraum in Potsdam war so knapp wie heute.

Woher die Idee für die Baugenossenschaft kam, weiß Horst Tent nicht mehr genau. Im Werk sprach sich herum, dass Interessenten gesucht wurden – und Tent meldete sich. „Wir haben nie bereut, dass wir damals zugegriffen haben“, sagt er.

Bis zum Einzug sollte es aber noch mehr als zwei Jahre dauern. Denn die Wohnhäuser mussten erst mal gebaut werden. Zu 400 Aufbaustunden hatten sich die Genossenschaftler – darunter nicht nur Karl-Marx-Arbeiter, sondern auch Filmleute von den Defa-Studios und Angestellte von der Post – verpflichtet. „Dadurch ist es nicht so teuer geworden“, erklärt Horst Tent. An Freitag- und Sonnabendnachmittagen, manchmal auch an Sonntagen war er mit den späteren Mitbewohnern zugange und hob zum Beispiel die Baugrube unter Anleitung von Fachleuten aus. „Das waren Berge von Sand, geschippt haben wir wie die Weltmeister – und geschwitzt auch“, erzählt der Schlosser: „Damit hat man dann seinen Feierabend verbracht.“ Auf den Fotos vom Richtfest im Herbst 1955 ist den jungen Genossenschaftlern – Horst Tent mittendrin in Baskenmütze – der Stolz über das Geschaffte anzusehen.

Aber es gab auch kleinere Pannen. Nur einem befreundeten Ingenieur beispielsweise ist es zu verdanken, dass die Balkone heute auf der Süd- anstatt der Nordseite liegen. Der ganze Block war eigentlich andersherum geplant gewesen, erzählt Tent: „Dann haben wir gesagt: Wir drehen ihn um.“ Auch die Höhe wurde noch während der Bauzeit geändert – denn das Haus sollte nicht höher als die Nachbarhäuser werden. „Da wurden in jeder Wohnung ein paar Zentimeter weggenommen und der Keller tiefergelegt.“ Das klappte so lange, bis die Balkontüren geliefert wurden: Denn die passten nicht.

Im Herbst 1956 war der Block jedenfalls fertig. Erst dann zogen die Genossenschaftler Lose: „So haben wir entschieden, wer welche Wohnung bekam“, erklärt Horst Tent. Er und seine Frau konnten in die Dreizimmerwohnung Parterre einziehen. Auch nach dem Einzug gab es viel zu tun: Der Sand musste abtransportiert, die Straße fertiggebaut werden, später der Rasen auf dem Wäscheplatz zwischen den Blöcken in Eigenregie gemäht und gewässert werden. „Es wurde überall eine helfende Hand gebraucht“, sagt Horst Tent. Aber die Wohnung war günstig. 36,65 Mark zahlte die junge Familie.

Heute ist es mehr als zehnmal so viel. Von den 18 Genossenschaftlern, die wie Tent seit 1956 dabei sind, wohnen noch fünf im Haus, rechnet er nach. Ungefähr die Hälfte der Wohnungen sind Eigentumswohnungen, Anfang der 1990erJahre wurde der Block saniert. Der genossenschaftliche Gedanke, sagt Horst Tent, den gebe es nicht mehr so. Dann geht er zur Schrankwand und holt ein Bierglas heraus: „30 Jahre AWG Karl Marx Potsdam“ steht darauf. Ob es jetzt zum 60. Jubiläum ein neues gibt? Horst Tent lächelt und schüttelt den Kopf. Zur Feier am Sonnabend will er trotzdem fahren – mit dem Rad: „Ich will mir das angucken.“

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