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Die vierjährige Malek mit ihrer Mutter Sanaa Khaled bei der Sprechstunde von Claus Herrmann.

© Sebastian Gabsch

Arztnot in Potsdam: Erste Hilfe

Die Suche nach Arztterminen ist auch für Flüchtlinge kompliziert. Die Awo hat in der Unterkunft auf dem Brauhausberg zwei Kinderärzte eingestellt – auf eigene Kosten. Bei der Stadt sieht man das auch kritisch.

Potsdam - Vor dem Behandlungszimmer hat sich schon eine kleine Schlange gebildet – vier Mütter mit ihren kleinen Kindern warten auf die Sprechstunde bei Claus Herrmann. Die Tür mit dem Schild „Doctor“, darauf ein rotes Kreuz und ein roter Halbmond, öffnet sich: Die Schwester bittet die Nächsten herein.

Claus Herrmann begrüßt die aus Syrien stammende Lubana Boydoun und ihre sechsmonatige Tochter Miral, die hier in Potsdam geboren wurde. Boydoun wohnt bereits seit rund einem Jahr in der Flüchtlingsunterkunft auf dem Brauhausberg. Das Baby hustet leicht und hat eine rote Nase, Herrmann horcht es mit dem Stethoskop ab und misst Fieber. „Haben Sie noch Prospan gegen den Husten?“, fragt er Boydoun, der Dolmetscher übersetzt.

Über viele Kinder fehlen Akten

Es sind die klassischen Winter- und Kinderkrankheiten, die der 73-jährige Herrmann hier immer mittwochs in seiner dreistündigen Sprechzeit behandelt. Doch nicht immer sind die Fälle so einfach: „Viele Kinder sind ja nicht von Geburt an hier, wir haben keine Akten über sie“, sagt der pensionierte Kinderarzt, der 40 Jahre lang im städtischen „Ernst von Bergmann“-Klinikum tätig war. „Wenn ein Kind mit drei Jahren noch nicht spricht, dann untersuchen wir erst mal, ob es überhaupt richtig hört.“ Auch Kinder mit Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen, die im Heimatland nicht erkannt oder nicht behandelt wurden, hat Herrmann immer wieder in der Sprechstunde.

93 Kinder zwischen null und 17 Jahren leben derzeit in der Unterkunft, die von der Arbeiterwohlfahrt Potsdam betrieben wird. Insgesamt sind 286 Menschen aus 21 Nationen auf dem Brauhausberg untergebracht. Herrmann und seine Kollegin Angelika Jacob, die ebenfalls pensionierte Kinderärztin ist, bieten immer mittwochs und freitags ihre Sprechstunden an, die manchmal nicht nur drei, sondern bis zu vier oder fünf Stunden dauern können.

Kinderärzte haben kaum noch Kapazitäten

Doch warum gibt es am Brauhausberg überhaupt Kinderärzte, warum gehen die Eltern nicht gleich zu einem ansässigen Kinderarzt in Potsdam? Anfangs ging das noch, sagt Unterkunfts-Leiter Andreas Wilczek, doch mittlerweile bekommt die Awo nur noch Absagen, wenn sie bei lokalen Praxen um einen Termin bittet: „Ein Kinderarzt sagte mir sogar am Telefon: Bitte fragen Sie nicht mehr nach Terminen, unsere Kapazitäten sind komplett voll“, sagt Wilczek. Und aus Gesprächen mit den Leitern anderer Unterkünfte in Potsdam weiß er: Dort läuft es ähnlich. „Manche fragen mich schon, ob sie nicht ihre Kinder zu uns auf den Brauhausberg schicken können“, sagt Wilczek.

Ähnliche Probleme kennt man auch bei der vom Diakonischen Werk unter dem Dach der Hoffbauer-Stiftung betriebenen Flüchtlingsunterkunft An der Alten Zauche im Schlaatz, wo Platz für 220 Flüchtlinge ist. „Es ist schwierig, Termine bei Fachärzte zu bekommen“, sagt Hoffbauer-Sprecherin Heidrun Spengler auf PNN-Anfrage. Teils müsse auf Ärzte im Umland ausgewichen werden. Besondere Probleme gebe es bei Kardiologen, Kinderärzten und Frauenärzten.

Hebamme entlastet Situation im Heim im Schlaatz

Im Heim im Schlaatz habe man daher in Zusammenarbeit mit dem Familienzentrum der Fachhochschule Potsdam (FH) eine Familienhebamme organisiert, die bei Bedarf ins Haus kommt und werdende und junge Mütter betreut. Im Durchschnitt sei die Hebamme zweimal pro Woche im Haus. „Das ist eine Entlastung der Situation“, sagt Spengler. Geplant sei außerdem, mit dem Familienzentrum der Fachhochschule eine Kindersprechstunde einzurichten. Dabei würde eine Kinderkrankenschwester bei kleineren Fällen beraten. „Sodass man nicht unbedingt den Arzt aufsuchen muss.“

Bei der Kindersprechstunde auf dem Brauhausberg bekommen die kleinen Patienten auch alle wichtigen Impfungen, auch Antibiotika, Mittel gegen Bauchschmerzen, Fieber, Husten oder Durchfall sind immer vorrätig, denn selber Rezepte oder Überweisungen schreiben dürfen die beiden Ärzte nicht: „Wir sind keine Konkurrenz zu den niedergelassenen Ärzten“, betont Kinderarzt Claus Herrmann. Für die Patienten bedeutet das doppelte Wege, denn wenn sie doch mal ein Rezept oder eine Überweisung ins Krankenhaus brauchen, müssen sie nach dem Besuch bei Herrmann oder Jacob noch zu einem niedergelassenen Arzt gehen, der dazu berechtigt ist.

Awo ist auf Spenden angewiesen

Obwohl es nicht die Aufgabe der Awo ist, richtete die Organisation 2016 den eigenen Behandlungsraum ein, kaufte Medikamente und Ausstattung und schloss Honorarverträge mit Jacob und Herrmann – alles aus eigener Tasche. Allein die Kosten für Medikamente und Impfstoffe belaufen sich den Angaben zufolge auf monatlich 5000 bis 6000 Euro, die bislang nur durch Spenden geschultert werden können. „Wir haben mit der Stadt, mit dem Ministerium und mit der Kassenärztlichen Vereinigung gesprochen, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, uns die Kosten zu erstatten, wenigstens für die teuren Impfstoffe“, sagt Wilczek. Herausgekommen sei bislang nichts.

Bei der Stadt sieht man diese Entwicklung kritisch. Denn eigentlich haben alle Geflüchteten den gleichen Anspruch auf eine Versorgung in Arztpraxen wie jeder Potsdamer auch. 2016 schloss sich die Stadt der Initiative von Brandenburgs Gesundheitsministerin Diana Golze (Linke) für die elektronische Gesundheitskarte an, seit Juli 2017 gibt es in Zusammenarbeit mit der Krankenkasse DAK die „Gesundheitskarte für Geflüchtete vom ersten Tag an“. Die DAK rechne die Kosten gegenüber der Stadt ab, die Stadt wiederum bekomme sie vom Land erstattet, erklärt Stadtsprecher Jan Brunzlow den Ablauf. 2016 habe das Land der Stadt auf diesem Wege Ausgaben in Höhe von knapp zwei Millionen Euro erstattet.

Auf dem Papier gibt es genug Ärzte

An der fehlenden Versorgung mit Ärzten liegt es laut der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg nicht – zumindest auf dem Papier. Bei Kinderärzten liege der Versorgungsgrad für die Stadt Potsdam aktuell „über 150 Prozent“, sagte KVBB-Sprecher Christian Wehry den PNN. Seit 2016 habe die KVBB 2,5 neue Kinderarztstellen für Potsdam erwirken können. Auch in allen anderen Arztgruppen gebe es eine sehr gute Versorgung. Dass sich das nicht mit den Erfahrungen vieler Patienten deckt, liege an der veralteten Berechnungsgrundlage, an die die KVBB aber gebunden sei. Der Schlüssel stamme in Grundzügen noch aus den 1990er-Jahren. Derzeit überarbeitet der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss, ein Gremium, in dem Kassen, Ärzte und Patienten vertreten sind, diese Bedarfsplanungsrichtlinie. „Wir sind gespannt, was herauskommt“, sagt Wehry.

Bei Herrmann kommt die nächste Patientin ins Behandlungszimmer: Die vierjährige Malak aus Syrien, auch sie ist erkältet. „Hustet sie eher nachts oder tagsüber?“, fragt Herrmann die Mutter Sanaa Khaled. „Nachts“, übersetzt der Dolmetscher, der Khaled im Anschluss erklärt, wie oft sie das von Herrmann verschriebene Medikament verwenden muss. „Die Ärzte sind sehr sorgsam gegenüber den Kindern“, lobt Khaled später.

Tatsächlich kommen manche der Eltern auch dann noch auf den Brauhausberg, wenn sie schon ausgezogen sind – da sie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. „Manchmal dolmetschen dann auch die Kinder, die zum Teil viel besser Deutsch sprechen als ihre Eltern“, sagt Herrmann. Für ihn sei die Arbeit keine Belastung: „Ich mache das sehr gerne. Ich bin ja in Rente und habe viel Freizeit, diese Tätigkeit ist sehr erfüllend für mich.“

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