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Später Aktenfund. Der Vize-Chef der Rechtsmedizin wurde 27 Jahre nach der Wende der Stasi-Mitarbeit überführt.

© dpa

Stasi-Tätigkeit des Rechtsmedizin-Vize-Chefs Brandenburg: Kein Einsehen

Wie geht man mit Stasi-Biografien im öffentlichen Dienst um? In Brandenburg, beim ehemaligen Vize-Chef der Rechtsmedizin, wählte man einen anderen Weg als Berlin mit dem Fall Andrej Holm.

Potsdam - Plötzlich hat der Rausschmiss des Vize-Chefs des brandenburgischen Landesinstituts für Rechtsmedizin, Jürgen B., eine neue Dynamik gewonnen. Und zwar durch den Fall Andrej Holm, den nach wochenlanger Debatte dann doch wegen seiner hauptamtlichen Stasi-Mitarbeit entlassenen Berliner Baustaatssekretär. Erst hielt der rot-rot-grüne Senat den Wissenschaftler, wartete auf Druck der Linken ab, dann machte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) doch Schluss. Am Ende entließ die Präsidentin der Humboldt-Universität Berlin, Sabine Kunst, den Soziologen Holm, weil er 2005 in einem Fragebogen falsche Angaben gemacht hat und nicht erklärte, zumindest für einige Monate hauptamtlicher Mitarbeiter beim Ministerium für Staatssicherheit gewesen zu sein.

Das Brandenburger Sozialministerium, konkret die Linke-Politikerin Diana Golze, ging im Fall Jürgen B. ganz anders vor als die Linke-Genossen in Berlin. Nämlich mit harter Hand, ohne zu zaudern. Wie berichtet hatte das Ministerium den bisherigen Vize-Chef des Landesinstituts wegen wiederholt verschwiegener Stasi-Mitarbeit fristlos entlassen, nur hilfsweise fristgerecht. Jürgen B., 58 Jahre alt, sollte zum 1. November 2016 Direktor des Landesinstituts werden. Allerdings hatte er wie 1991 bei einem Personalgespräch im Oktober 2016 erneut seine Tätigkeit als „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) für die Staatssicherheit, Deckname „Paul“, verschwiegen.

Hätte sich B. nicht auf den Direktor-Posten beworben, wäre seine Stasi-Tätigkeit nie aufgeflogen

Durch eine Abfrage bei der Stasi-Unterlagenbehörde, wie sie bei Behördenchefs in Brandenburg seit 2012 Vorschrift ist, stieß das Ministerium auf seine frühere Spitzelei für die Staatssicherheit Ende der 1980er-Jahre. Weil B. dies selbst auf Nachfragen verschwieg, sah das Sozialministerium das Vertrauensverhältnis zu dem Landesbediensteten nachhaltig zerstört, für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst sei er nicht mehr geeignet. Hätte sich Jürgen B. nicht beworben, um Direktor des Landesinstituts zu werden, wäre seine frühere Stasi-Tätigkeit nie aufgeflogen.

In der kommenden Woche könnte das Arbeitsgericht Potsdam nun entscheiden, ob das Sozialministerium recht getan hat. Denn Jürgen B. klagte gegen seine fristlose Entlassung. Im Ministerium herrscht Verwunderung über die Verteidigungsstrategie des Rechtsmediziners. Demnach sei er nur wegen seiner IM-Tätigkeit gefeuert worden. Er habe damals im Zentralen Militärkrankenhaus der NVA in Bad Saarow (Oder-Spree) der Stasi nur Informationen gegeben, die ohnehin bekannt gewesen seien. Als NVA-Offizier sei er zur Zusammenarbeit mit der Stasi verpflichtet gewesen. Und geschadet hätte er niemandem, seine Zuträgerschaft wäre gewissermaßen bedeutungslos gewesen.

Nicht nur die Stasi-Tätigkeit spielt eine Rolle, sondern auch, wie intensiv sie war

Sofern es denn bedeutungslos ist, detailliert Informationen zu sammeln über Liebschaften unter Kollegen, über den Geiz des Vorgesetzten, darüber, wie wenig Wert dessen Ehefrau auf ihr Äußeres lege und wie redselig sie sei. Das alles geht aus den Stasi-Akten hervor. Und auch, dass er berichten sollte, ob ein Kollege sich auffällig nach einer Kuba-Reise verhalten hat, wer West-Fernsehen schaut, sich kritisch zur Linie der SED-Oberen äußert, wie sich Reisekader für das „nicht-sozialistische Ausland“ verhalten. Es war das System der Diktatur, der Stasi: Macht und Kontrolle durch erspitzeltes Wissen. Schmutziges Wissen über Privates, Charakterzüge, Freizeit und die Zustände in der Familie. Vor Gericht spielt übrigens nicht nur die Stasi-Tätigkeit eine Rolle, sondern auch, wie intensiv sie war.

Noch im September 1988, ein Jahr vor der Friedlichen Revolution, unterzeichnete B. eine Verpflichtungserklärung zur „politischen-operativen“ Durchdringung an seinem Arbeitsplatz im Institut für Gerichtliche Medizin an der Militärmedizinischen Akademie in Bad Saarow, wo übrigens auch die Maueropfer obduziert wurden. B. spitzelte für die Hauptabteilung I der Staatssicherheit, die für Abwehr in der NVA und bei den Grenztruppen zuständig war. Die Stasi-Unterlagenbehörde fand zu B. 40 Seiten in ihren Archiven. Von der Stasi angeworben wurde B. wegen seiner „politisch-ideologischen Überzeugung“.

Jürgen B. hat sich nur wenig von seiner Spitzeltätigkeit distanziert

Für bedeutungslose Spitzel gab die Stasi kein Geld aus. Die von Jürgen B. überlieferten, detaillierten Berichte aber waren offenbar etwas wert. Er bekam im April 1989, mehr als ein halbes Jahr nach seiner Erfassung als IM, ein Geschenk. Es gab eine Schreibmappe im Wert von 30,50 Mark als „Anerkennung geleisteter Arbeit“, wie der Führungsoffizier vermerkte. Für die Treffen mit seinem Führungsoffizier gab es sogar eine konspirative Wohnung in Königs Wusterhausen.

Aus Sicht des Sozialministeriums hat sich Jürgen B. auch heute, 26 Jahre später, nur wenig von seiner damaligen Spitzeltätigkeit distanziert. Es fehle die Einsicht in das Unrecht, hieß es. Auch Andrej Holm klagt übrigens gegen seine Entlassung an der Humboldt-Universität. Wenn B. und Holm damit in die nächste Instanz gehen, hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg zu befinden. Darüber, wie heute mit der Lüge umzugehen ist, wenn im öffentlichen Dienst eine Tätigkeit für die Stasi verschwiegen wird.

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