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© Gestaltung: Tagesspiegel/Imago/Zoonar.com/Joachim G. Pinkawa; adobe stock

Sehnsucht nach Ablenkung: Was das Interesse für die Löwinnen-Suche über uns aussagt

Zur vermeintlich ausgebüchsten Löwin hatte wirklich jeder etwas zu sagen. Man kann das für trivial halten. Doch das Mitfiebern bei der Löwinnen-Suche erwächst aus einem tieferen Bedürfnis.

Ein Kommentar von Maria Fiedler

Nun ist es vermutlich doch ein Wildschwein. Dabei war sie zum perfekten Zeitpunkt aufgetaucht: die vermeintliche Löwin. Auf einem schummrigen Handyvideo aufgezeichnet, von Polizisten ebenfalls gesichtet, ist das Wildtier in das beginnende Sommerloch geplatzt. Per Smartphone-App ging die Warnung früh am Donnerstag raus, seitdem unterhielt die Suche nach dem Tier die Republik. Liveschalten nach Kleinmachnow und Wildtierexperten-Interviews inklusive.

Man mag all das für trivial halten. Aber für die meisten war die #Loewin eine willkommene Ablenkung. Seit Beginn der Coronapandemie dominieren düstere Nachrichten die Schlagzeilen. Die Krisen überlagern sich: Nach dem Ende der Hochphase der Pandemie griff Russland die Ukraine an. Es folgten Inflation und Energiekrise. Nun ist mit Hitzewellen in Südeuropa die Klimakrise wieder mit Wucht zurück im Bewusstsein. Und selbst das Freibad ist zum Krisengebiet geworden. Viele spüren: Die Krise ist zum Dauerzustand geworden, das geht nicht mehr vorbei.

Bedürfnis nach einer Pause

In Deutschland hat sich Gereiztheit und Frust breitgemacht, gepaart mit Ermüdung. Viele Debatten sind polarisiert und von vornherein erhitzt, Rechte und Konservative fühlen sich zu einem Kulturkampf um Sprache und Lebensstil herausgefordert. Da wird selbst das Schnitzel zum politischen Symbol – vor allem für diejenigen, die behaupten, irgendjemand wolle es verbieten.

Kürzlich forderte schon ein Kommentator in der „Zeit“ eine Kulturkampfpause – und zielte dabei auch auf die Grünen, die nach all der Aufregung um das Heizungsgesetz doch mal die Veränderungs-Zumutungen zurückschrauben sollten.

Und nun bot ausgerechnet die vermeintliche Löwin eine Pause von all dem.

Natürlich hat auch dieses Thema ernste Aspekte – man lernte etwa, dass 23 Löwen in Brandenburg privat gehalten werden. Ist das mit dem Tierschutz zu vereinbaren? Nicht wenige sorgten sich auch, dass das Wildtier bei der Jagd erschossen wird. Auch für die Anwohner war die Gefahr kein Spaß.

Für viele andere aber war das Verfolgen der Löwinnenjagd genau das: ein Vergnügen – und purer Eskapismus. Etwas, das zumindest auf den ersten Blick, vollkommen unpolitisch ist.

Dazu hatte jeder etwas zu sagen

Ein Zirkusdirektor erklärte, er fresse einen Besen, wenn das wirklich ein Löwe sei. Wildtierexperten fachsimpelten und mutmaßten schon früh, dass es sich auch um ein Wildschwein handeln könnte. Der Kollege aus dem Büro tippte eher auf einen Luchs. Man erfuhr, wie man sich verhalten sollte, falls man jemals einem Löwen begegnet (bitte keine Selfies!) und wie so eine Wildtierbetäubung eigentlich funktioniert.

In einer Zeit, in der meist nicht einmal mehr der „Tatort“ als gemeinschaftliches Gesprächsthema taugt, weil auch auf Netflix so viel läuft, war die vermeintliche Löwin etwas, zu dem wirklich jeder etwas zu sagen hatte. Das geht sonst nur noch beim Wetter.

Natürlich war auch die Phantom-Löwin nicht gefeit vor Politisierung. Einige stellten angesichts des Aufrufs der Behörden, zu Hause zu bleiben, Vergleiche mit Corona an. „Freie Wähler“-Chef Hubert Aiwanger erklärte, die „Löwin von Berlin“ werde hoffentlich von denjenigen „Großstadtökologen“ richtig gemanagt, die sich in den letzten Wochen für die Akzeptanz von Bären in Bayern starkgemacht hätten. Worauf der Hinweis folgte, es fehle jetzt nur noch ein Vergleich mit dem Wolf. Aber all das blieben Debatten am Rande.

Nun hat die Polizei ihre aktive Suche nach der Löwin eingestellt. Für die Anwohner ist der Spuk damit vorbei. Für alle anderen gehen 36 Stunden Ablenkung zu Ende.

Was bleibt? Sicher, enorme Kosten. Aber auch die Erkenntnis, dass es in unserer Gesellschaft ein Bedürfnis gibt nach mehr Leichtigkeit. Nach etwas, das zum Mitfiebern einlädt. Nach einem gemeinschaftlichen Thema, das nicht polarisiert und aufreibt.

Es ist nichts falsch daran, wenn das auch wieder öfter der klassische „Tatort“ ist oder die Fußball-WM, die derzeit läuft. Ein bisschen Eskapismus, ein bisschen gesellschaftliches Lagerfeuer – das braucht es in krisenhaften Zeiten.

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