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Der Oberste Gerichtshof der USA ist am 30. Juni 2022 in Washington, DC zu sehen.

© AFP/Getty Images/Kevin Dietsch

Probleme und Krisen in Endlosschleife: Das amerikanische Gemüt kommt ins Wanken

Unabhängigkeitstag in den USA: Unsere Korrespondentin schildert in „Washington Weekly“ ihre Eindrücke.

Dies war nun tatsächlich der erste 4. Juli, den ich nicht in den USA verbracht habe, seit ich im Mai 2018 als Korrespondentin nach Washington gezogen bin. Den Unabhängigkeitstag habe ich drei Mal unter Donald Trump und einmal unter Joe Biden erlebt.

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Zum Auftakt war ich bei einer Einwanderungszeremonie in Mount Vernon dabei, dem Landsitz des ersten US-Präsidenten George Washington rund 20 Kilometer von der heutigen Hauptstadt entfernt.

Ich erinnere mich an fröhliche Gesichter bei brütender Hitze und den Gedanken, wie seltsam zweischneidig es sich anfühlen muss, Amerikaner unter dem damaligen Grenzmauer-verliebten Präsidenten zu werden.

Militärparaden, düstere Tiraden, Sturm auf das Kapitol

Im zweiten Jahr inszenierte Trump eine martialische Militärshow im Herzen Washingtons, ließ Kampfflieger und Helikopter im Tiefflug über die Hauptstadt donnern, präsentierte Panzer am Lincoln Memorial und hielt dort eine Rede vor seinen Anhängern – ein Bruch mit lang gepflegten Gewohnheiten. Seine Vorgänger hatten sich an diesem Tag, an dem die Amerikaner den Geburtstag ihrer Nation im Jahr 1776 eher unpolitisch mit Picknick und Feuerwerk feiern, weitgehend zurückgehalten.

In Trumps viertem Amtsjahr, vier Monate vor der Wahl 2020, flog er eigens nach Mount Rushmore im Bundesstaat South Dakota, um eine düstere Tirade gegen Black-Lives-Matter-Demonstranten und politische Gegner zu halten. Im Gange sei eine „gnadenlose Kampagne zur Auslöschung unserer Geschichte“, sagte Trump da zu Tausenden Anhängern vor den in Stein gemauerten Porträts der amerikanischen Gründerväter (ich selbst war in DC geblieben, es war ja das erste Pandemiejahr). „Wütende Mobs“ versuchten, Statuen der Gründerväter der USA zu Fall zu bringen, dagegen werde sich das amerikanische Volk wehren, sagte Trump.

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Die „linke Kulturrevolution“, der Angriff auf die Freiheit der Amerikaner, müsse gestoppt werden. Sieben Monate später drangen seine Anhänger gewaltsam in das Kapitol in Washington ein, um den friedlichen Machttransfer zu verhindern.

Die „Unabhängigkeit vom Virus“?

Das hat zwar bekanntlich nicht geklappt, Joe Biden wurde zwei Wochen später als 46. US-Präsident vereidigt. Aber der Tag, an dem fünf Menschen starben und das Land gefährlich nah an einem Putsch vorbeischrammte, beschäftigt die amerikanische Politik bis heute.

In einem Untersuchungsausschuss versucht das demokratisch geführte Repräsentantenhaus dieser Tage, Trump eine direkte Verantwortung dafür nachzuweisen. Und Justizminister Merrick Garland wird bald die Frage beantworten müssen, ob er Anklage gegen einen ehemaligen Präsidenten erhebt.

Biden wiederum inszenierte seinen ersten 4. Juli als Präsident im vergangenen Jahr als einen Tag, an dem die „Unabhängigkeit vom Virus“ gefeiert werden sollte, und sich selbst als Mutmacher, der das Land aus der Krise führte.

Polizisten am Tag nach der Bluttat am Tatort.

© REUTERS/Cheney Orr

Da ging allerdings der Optimismus mit ihm durch: Die Pandemie kam im Sommer 2021 noch einmal mit Macht zurück, und auch die anderen Krisen des Landes gehören keineswegs der Vergangenheit an. Der Krieg in der Ukraine, die grassierende Inflation, die von den Republikanern blockierte Aufarbeitung des 6. Januars sowie Kulturkämpfe um Schwangerschaftsabbrüche, Schusswaffen oder Minderheitenrechte überlagern derzeit fast alles – und trüben Bidens Bilanz.

Allein deshalb war der 4. Juli in diesem Jahr kein unbeschwerter Feiertag. Als dann ein 21-Jähriger während einer Parade in Highland Park, einem Vorort von Chicago, sieben Menschen erschoss, war es mit der Feierlaune weitestgehend vorbei. Ähnliche Umzüge in der Umgebung wurden abgesagt, Biden und seine Vizepräsidentin mussten einmal mehr zu einem Schusswaffenmassaker Stellung nehmen und Betroffenen Trost spenden.

Ein neuer Blick auf die USA

Amerika im Frühsommer 2022 ist ein Land, das leidet, insbesondere an sich selbst und an seiner großen Uneinigkeit. Das war zwar nicht der Grund, warum ich das Feiertagswochenende in Kanada verbracht habe. Aber es war fast wie ein Experiment, von hier aus auf die Vereinigten Staaten zu blicken.

Amerikas nördlicher Nachbar (dessen Hauptstadt natürlich nicht wie in der vergangenen Woche an dieser Stelle fälschlicherweise geschrieben Toronto, sondern Ottawa ist) wirkt gerade wie Balsam.

In der vom weltgrößten Tidenhub geprägten Provinz New Brunswick, die ich in den vergangenen Tagen bereiste, ticken die Uhren langsamer. Es ist die einzige zweisprachige Provinz Kanadas – in Quebec ist nur Französisch offizielle Amtssprache –, Toleranz spielt eine große Rolle.

An manchen Stellen werden Geschichte und touristische Highlights sogar in drei Sprachen erklärt: Der Umgang mit den Angehörigen der First Nations, also den Ureinwohnern, ist sensibler geworden – spätestens, seit im vergangenen Jahr Massengräber an Umerziehungsinternaten, den „residential schools“, gefunden wurden.

Auch wenn das Land hier noch viel aufzuarbeiten hat: Von der Polarisierung des Nachbarn, dem Rückzug in unversöhnliche Lager, spürt man wenig. Die Menschen, die ich getroffen habe, sind freundlich, offen und tatkräftig. Auch viele Kanadier sind stolz auf ihr Land und wedeln fleißig mit Fahnen, wie wir zum Kanada-Tag am vergangenen Freitag in der liebenswürdigen Hafenstadt Saint John erleben durften.

Aber es ist ein ganz anderer Patriotismus als in den USA, wo ständig von der Einzigartigkeit der Nation, dem Auserwähltsein und der Vorbildrolle die Rede ist – während sich die Welt zunehmend Sorgen um den Zustand der amerikanischen Demokratie macht.

Eine naive Hoffnung auf Besinnung

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Wie so viele bin ich immer noch ein großer Fan der Vereinigten Staaten und bewundere Eigenschaften der Amerikaner wie ihren Optimismus, den Drang, Neues einfach mal auszuprobieren, die Bereitschaft, Fehler schnell zu korrigieren und neu anzufangen.

Aber die vergangenen zwei Monate lasten auf dem Gemüt: Buffalo, Uvalde, der 6. Januar, ein nach rechts katapultierter Supreme Court, der die Wünsche einer Minderheit bedient und die Mehrheit vor den Kopf stößt, die Kompromiss- und damit Reformunfähigkeit der Politik, der von 60 Polizeikugeln erschossene, unbewaffnete Afroamerikaner Jayland Walker in Akron/Ohio, die Opfer von Chicago, wo am Montag ein Zweijähriger zum Waisenkind wurde: Probleme und Krisen in Endlosschleife, dazu kommen der Krieg in der Ukraine und die Folgen der Pandemie.

In voller Montur: Laiendarsteller am Unabhängigkeitstag in Mount Vernon.

© Mandel Ngan/AFP

So gerne hätte man Amerika zum 4. Juli gewünscht, dass es innehält, sich schüttelt und auf seinen Gründungsmythos besinnt, auf das Versprechen, aus der Vielfalt eine Einheit zu machen. Aber die Kugeln des Attentäters in der Kleinstadt Highland Park und die Reaktionen darauf wirken wie ein tragischer Beleg dafür, dass die Hoffnung darauf derzeit naiv ist.

Schwere Rückschläge, nicht nur beim Kampf gegen den Klimawandel

Wenige Tage zuvor hat die konservative Mehrheit des Supreme Courts zudem in der letzten Entscheidung für diese Sitzungsperiode verdeutlicht, wie schwer es die Bundesregierung ihrer Ansicht nach haben soll, politische Entscheidungen zu treffen.

Das Gericht urteilte, dass die US-Umweltschutzagentur EPA zu viele Befugnisse habe und keine Grenzwerte für den CO2-Ausstoß von Kohlekraftwerken hätte festlegen dürfen – ein schwerer Rückschlag für die Biden-Regierung beim Kampf gegen den Klimawandel.

Damit nicht genug, kündigten die Richter für die nächste Sitzungsperiode, die nach der Sommerpause beginnt, an, sich das Wahlrecht vorzunehmen – was umgehend Alarmglocken schrillen ließ. Anlass ist der Rechtsstreit „Moore vs. Haper“, der die Frage aufwirft, ob Gerichte die umstrittene Praxis des „Gerrymandering“ verbieten dürfen, also das Nachziehen von Wahlkreisgrenzen entlang der demografischen Bevölkerungsverteilung mit dem Ziel, Wahlergebnisse zu beeinflussen.

Ein Denkmal vor der früheren Residential School in Kamloops erinnert an das dunkle Kapitel in Kanadas Geschichte.

© Dennis Owen/Reuters

Konkret geht es um Wahlkreisgrenzen, die die republikanischen Gesetzgeber in North Carolina nach einer Volkszählung vor zwei Jahren neu gezogen hatten.

Weil der Oberste Gerichtshof North Carolinas Klagen unter anderem von der Wahlrechtsaktivistin Rebecca Harper Recht gab und dem Bundesstaat auftrug, noch einmal neue, fairere Wahlkreisgrenzen zu zeichnen, zogen die Republikaner in North Carolina vor den Supreme Court. Der kündigte nun an, den Fall im Oktober zu behandeln.

Der Supreme Court, das „extremistische Gericht“

Würden die Obersten Richter im Sinne der Republikaner und damit nach der Independent State Legislature Doctrine (ISL) urteilen, gäbe das den Landesparlamenten das Recht, alleine über die Ausführung von Wahlen entscheiden zu können: nicht die Landesgerichte und auch nicht die Gouverneure, selbst wenn diese laut Verfassung ein Veto-Recht hätten.

Das könnte Auswirkungen bis hin zu Präsidentschaftswahlen haben, so die Befürchtung. Denn ein Urteil könnte nicht nur für das Gerrymandering, sondern auch für andere Regeln rund um die Ausführung von Wahlen angewendet werden: zum Beispiel bei der Anzahl der Wahllokale oder der Frage, wer wie wählen darf.

Der Oberste Gerichtshof der USA ist am 30. Juni 2022 in Washington, DC zu sehen.

© AFP/Getty Images/Kevin Dietsch

Nicht nur linke Demokraten wie die Abgeordnete aus New York, Alexandria Ocasio-Cortez, die von einem bevorstehenden „Justizputsch“ sprach, sind alarmiert. Auch Biden selbst bezeichnete den Supreme Court gerade als „extremistisches Gericht“. Die Vertrauenskrise in den USA schwillt in einer Geschwindigkeit an, die atemberaubend ist. Ausgang offen.

Women's March nach dem Kippen des Rechts auf Abtreibung

Nach einer knappen Woche in Kanada geht es für mich nun wieder zurück nach Washington. Eigentlich hat sich die Stadt schon geleert: Die berüchtigte Schwüle ist eingezogen, samt Moskito-Schwärmen, was viele Hauptstädter in kühlere Gebiete vertreibt. Zum Beispiel nach Kanada.

Aber am Samstag wird sich die Innenstadt noch einmal füllen: Zehntausende Menschen werden zum Women's March erwartet. Zum letzten Women's March am 21. Januar 2017, einen Tag nach der Amtseinführung Trumps, kamen Hunderttausende in die Hauptstadt, um für Frauen- und Menschenrechte zu protestieren.

Die Sorgen waren groß, was der Republikaner im Weißen Haus anrichten würde.

Aus den Sorgen sind Tatsachen geworden. Am 9. Juli 2022, wenige Tage, nachdem die von Trump geschaffene konservative Supermehrheit am Supreme Court das landesweite Recht auf Abtreibung kippte, wird sich nun zeigen, wie viele Menschen dagegen auf die Straße gehen werden.

Ich werde auf jeden Fall dabei sein und berichten.

Ihre Juliane Schäuble, USA-Korrespondentin

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