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Filmschaffende fordern, dass der Vertrag mit dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian über das Jahr 2024 hinaus verlängert wird.

© dpa/Jens Kalaene

Offener Brief nach Berlinale-Entscheidung: Martin Scorsese nennt Umgang mit Chatrian „unmoralisch“

Über zweihundert Filmschaffende aus aller Welt fordern eine Vertragsverlängerung für den Berlinale-Leiter. Die Liste ist prominent – und stellt Claudia Roth ein beschämendes Zeugnis aus.

Von Andreas Busche

Eine Woche nach der Entscheidung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth und der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH (KBB), den Vertrag mit dem künstlerischen Leiter der Berlinale Carlo Chatrian nicht zu verlängern, hat sich nun auch die internationale Filmwelt gegenüber dem unwürdigen Umgang mit dem Kurator – und dem Ansehen des gesamten Festivals – zu Wort gemeldet.

In einem offenen Brief fordern am Mittwoch über zweihundert Regisseurinnen und Regisseure – darunter Martin Scorsese, M. Night Shyamalan, Paul Schrader, Olivier Assayas, Ruth Beckermann, Hong Sangsoo, Christian Petzold, Claire Denis und Ryusuke Hamaguchi – Roth auf, den Vertrag mit Chatrian zu verlängern.

Wir, eine Gruppe von Filmemachern aus aller Welt, die die Berlinale als Ort schätzen, protestieren gegen das schädliche, unprofessionelle und unmoralische Verhalten von Staatsministerin Claudia Roth.

Offener Brief vom Mittwoch

Der Umfang dieser Liste zeigt nicht nur, wie gut der Italiener international vernetzt ist; sondern vor allem, über welches Ansehen er als Kurator verfügt. Die Unterzeichner betonen zudem, dass Chatrian und die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek die Berlinale durch eine der schwierigsten Zeiten der jüngeren Vergangenheit manövriert haben. Sie bezeichnen das Vorgehen Roths „schädlich, unprofessionell und unmoralisch“.

Auch die Retrospektive schrumpft 2024

Die Stellungnahme erscheint nur einen Tag, nachdem die Deutsche Kinemathek verkündet hat, dass die Retrospektive, ein weiteres Aushängeschild der Berlinale, 2024 ebenfalls reduziert wird. In der kommenden Ausgabe wird die Hommage, die Würdigung des Ehrenbär-Preisträgers, ganz ausfallen. Dieses Jahr ging die Auszeichnung an Steven Spielberg.

Den offenen Brief kam man bis ins letzte Wort unterschreiben. Carlo Chatrian, heißt es dort, sei kein Showman. „Aber auf ruhige Art haben er und sein Team einen offenen und künstlerisch lohnenden kuratorischen Weg eingeschlagen, der neue Richtungen im Weltkino aufzeigt, Stereotypen hinterfragt und ganz verschiedene Stränge des Filmschaffens miteinander verbindet.“

Damit hat Chatrian sich der schwierigen Aufgabe angenommen, die Berlinale in einem immer fragmentierteren Arthouse-Weltmarkt – und zwischen der übermächtigen Konkurrenz Cannes und Venedig – neu zu positionieren.

Er selbst hatte seine Aufgabe noch lange nicht als vollendet gesehen, was auch aus seinem Abschiedsschreiben am vergangenen Samstag, als Antwort auf seine chaotische Demission, hervorgeht. „Ich dachte, dass Kontinuität gewährleistet werden könnte, wenn ich weiterhin Teil des Festivals bliebe, aber in der neuen Struktur, so wie sie nun vorgestellt wurde, ist ganz klar, dass die Bedingungen für mich, als künstlerischer Leiter weiterzumachen, nicht mehr gegeben sind.“ Das Statement ist inzwischen von der Website der Berlinale verschwunden.

Keine Vision für die Berlinale

Besonders ein Satz sticht in dem offenen Brief ins Auge, der die Kurzsichtigkeit der Entscheidung sehr treffend beschreibt. „Es überrascht nicht, dass im Zuge dieser Vorgänge keine bessere Vision für das Festival vorgestellt oder diskutiert wurde, außer der fragwürdigen und politisch rückständigen Forderung nach einer starken Hand, die die Berlinale angeblich in Form eines ‘Intendanten’ braucht.“

Darin klingt bereits die Befürchtung an, dass weniger inhaltliche Gründe der Entscheidung vorausgingen. Bereits Ende Juli wurden massive Einsparungen bei der Berlinale, immerhin der größten Kulturveranstaltung des Bundes, angekündigt. Die Entscheidung gegen Chatrian – unabhängig von den schlechten Umgangsformen – lässt darauf schließen, dass sich im Haus der KKB und der BKM die künstlerische Ausrichtung der Berlinale den wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen hat.

Man muss fast annehmen, dass die deutsche Kulturpolitik die internationalen Reaktionen nicht vorhergesehen hat. Dies wiederum zeigt einmal mehr, wie wenig Sachverstand und Verständnis für die Bedeutung der Berlinale über den (Wirtschafts-)Standort Berlin hinaus in der hiesigen Kulturbürokratie vorherrscht. Unprofessionell ist für den Umfang der „Sparmaßnahmen“ noch eine freundliche Umschreibung. Sie grenzen vielmehr an Mutwilligkeit.

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