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Ausstellunsgsansicht, Turner. Three Horizons

© Lenbachhaus, Simone Gänsheimer

William Turner im Lenbachhaus: Giftiger Nebel im Licht

Der Brite William Turner malte den Klimawandel, als noch niemand davon sprach. Das Lenbachhaus in München zeigt den Romantiker als großen Erneuerer der Kunst und Chronisten der Industriegesellschaft 

Wolken, Wasser, Rauch und Dunst. Die Welt zerfließt in ihre Elemente. Und mittendrin im Nebel ist da plötzlich ein Schiff oder ein Haus zu sehen, manchmal auch nur zu erahnen im Farbgestöber. Mit seinen experimentellen Landschaftsbildern war der Brite William Turner (1775 bis 1851) seiner Zeit weit voraus.

Er ließ Farben auf der Leinwand explodieren, er malte den Himmel über Venedig und den Smog über London. Als 1834 das englische Parlamentsgebäude brannte, verfolgte er das Feuer begierig von einem Boot auf der Themse aus und skizzierte es. Er ließ sich im Sturm an einen Schiffsmast fesseln, um die Naturgewalt des Meeres zu erleben. Ihn faszinierten Lawinenabgänge, untergehende Kriegsschiffe und Wetterphänomene. William Turner war ein Maler von Katastrophen und des Klimawandels, als noch niemand das Wort kannte.

Londons „Big Smoke“

Seine Nebelbilder stehen für die verseuchte Luft der Großstadt London vor 200 Jahren. Nirgendwo sonst auf der Welt wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts so viel giftiges Schwefeldioxid ausgestoßen wie in der City des „Big Smoke“. Denn um die Dampfmaschinen in den Fabriken, Lokomotiven und Schiffen anzutreiben, wurde massenweise Kohle verbrannt.

Im Winter heizten die Londoner mit dem fossilen Brennstoff, der Rauch legte sich wie eine Decke über die Stadt. Wie sehr die zunehmenden Aerosole die Streuung des Lichts und damit Turners Bilder veränderten, haben jüngst die Klimaforscher Anna Lea Albright und Peter Huybers in einer Studie belegt.

William Turner war fasziniert von Naturgewalten: „Niedergang einer Lawine in Graubünden“, 1810.

© Foto Tate

Tauschhandel mit der Tate Britain

Wer das weiß, sieht Turner Bilder mit anderen Augen. Die Ausstellung „Three Horizons“ hat das Münchner Lenbachhaus der Tate Britain in einem Tauschhandel entlockt. Das Londoner Museum zeigt ab April die Schätze des Blauen Reiters aus München, dafür durfte sich das Lenbachhaus aus den Turner-Beständen der Tate bedienen. Der Maler hatte der britischen Nation einst mehr als 30 000 Arbeiten vermacht, darunter etwa 300 Gemälde.

Der unterirdische Kunstbau über dem Münchner U-Bahnhof Königsplatz bietet reichlich Platz für die rund 40 Gemälde sowie 40 Aquarelle und Skizzen – und die nötige Sicherheit für die millionenschweren Leihgaben.

In der langen Halle stehen sich die Bilder des offiziellen und des privaten Turner gegenüber: Chronologisch aneinandergereiht, sieht man links die Gemälde, mit denen der Brite seine Ausstellungen bestückte, rechts hängen seine künstlerischen Experimente, teils unvollendete, teils fast abstrakte Ölgemälde, die möglicherweise das Atelier nie verließen. Dazu kommen Skizzenbücher, Aquarelle und ein Raum über die wechselvolle Rezeptionsgeschichte zu Turners Bildern.

Den Umbruch spüren

Der schweigsame kleine Mann mit dem Cockney-Akzent, den krummen Beinen und der Physiognomie eines Bauern hatte so gar nichts von einem romantischen Genie. Im Barbierladen seines Vaters durfte er schon als Kind Zeichnungen aufhängen. Bis ein Förderer sein Talent entdeckte und ihn an die Kunstschule der Royal Academy vermittelte. Da war er 14.

„Die Sonne ist mein Gott“, sollen William Turners letzten Worte gewesen sein. „Sonnenuntergang vom Gipfel des Rigi aus“, ca. 1844.

© Foto Tate

Mit 15 stellte er bereits dort aus, mit 26 wurde er jüngstes Vollmitglied der Akademie. Mit 32 lehrte er dort als Professor für Perspektivlehre – die technischen Zeichnungen Turners, die er für seine Vorlesungen anfertigte, gehören zu den Entdeckungen in der Ausstellung.

In der benachbarten Royal Society verfolgte er die Debatten der Wissenschaftler, Turner kannte Goethes Farbenlehre, beschäftigt sich mit Physik und optischen Phänomenen. Dazu kamen Reisen durch ganz Europa. Er durchstreifte rund 700 Orte in zehn Ländern, fuhr Postkutsche, Segelschiff, Dampfer und Eisenbahn – und streckte den Kopf aus einem fahrenden Zug, um den Rausch der Geschwindigkeit, die Beschleunigung einer Welt im Umbruch um 1800, zu spüren.

Er malte wie ein Berserker, nicht wie ein nobles Akademiemitglied. Seine Farben rührte er mit Sahne, Schokolade, Eigelb und Johannisbeergelee an. Die Leinwände traktierte er mit Pinselstielen, Messern und bloßen Fingern. „Seifenlauge“ schimpften Kritiker. Eine Karikatur zeigte ihn, wie er die Leinwand mit einem Wischmopp bearbeitet. Sein Spitzname lautete „Over-Turner“.

Verkauft hat er trotzdem stets gut. Er gründete seine eigene Galerie und produzierte gezielt Bilder für den Markt. Sein Geld legte er in Wertpapieren, in Haus- und Grundbesitz an. Er soll nach heutiger Kaufkraft fast 16 Millionen Euro hinterlassen haben.

Abstrakter Turner, an Mark Rothko anmutend: „Drei Seeansichten“, ca. 1827.

© Foto Tate

„Die Sonne ist mein Gott“, sollen seine letzten Worte gewesen sein, als er 1851 starb. Am Ende der Ausstellung hängt „Sonnenuntergang vom Gipfel des Rigi aus“ von 1844. Das Bergmassiv am Vierwaldstättersee verschwindet komplett in einem Farbmeer.

Turner malte es fast so abstrakt wie seine „Three Seascapes“ um 1827. Darauf teilen drei Bildflächen Meer, Himmel und Erde. Wo oben oder unten ist, lässt sich nicht sagen. Das Bild ähnelt verblüffend einem Farbfeld-Werk des 1970 verstorbenen Mark Rothko. Der US-Maler soll über sein Vorbild einmal gescherzt haben: „Dieser Turner hat viel von mir gelernt“.

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