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Am Flügel der großen Gefühle. Marlene Dietrich, gespielt von Sven Ratzke.

© Ann-Marie Schwanke / Siegersbusch

Sven Ratzke als „Marlene“ im Renaissance-Theater: Diva vom Sunset Boulevard

Lange hatte Judy Winter die Deutungshoheit in Sachen Marlene Dietrich in Berlin inne. Nun schlüpft der niederländische Entertainer Sven Ratzke in die Roben der Diva.

An einem Ostermontag anno 2004 gab es im Renaissance-Theater ein besonderes Jubiläum zu feiern: Judy Winter stand zum 500. Mal als „Marlene“ auf der Bühne. Glaubt man den Berichten von damals, gab es Standing Ovations und einen prasselnden Blumenregen. In 62 Städten in sieben Ländern hatte Winter die Rolle der in die Jahre gekommenen Diva damals bereits gespielt, bis nach Japan war die Produktion gereist. Acht Jahre spielte Winter den Part an der Knesebeckstraße, auch danach ließ sie sich immer wieder zu einzelnen Vorstellungsserien überreden. Judy und Marlene – das war in Berlin ewig ein Synonym.

Es gehört also durchaus Mut dazu, als neue „Marlene“ an gleicher Stelle anzutreten. An dem mangelt es Sven Ratzke nicht. Und glücklicherweise auch nicht an Talent. Der deutsch-niederländische Schauspieler, Sänger, Musicalstar und Verwandlungskünstler, der jetzt in der Regie von Guntbert Warns die kühle Blonde mit den hohen Wangenknochen spielt, hat schon im Vorfeld vielfach betont, es ginge ihm nicht einfach um eine Wiederauflage des Winter-Hits. Sondern um seine eigene Deutung des Mythos Marlene Dietrich. Und das geht auf.

Erfunden, nicht geboren

Am wenigsten bemerkenswert ist, dass jetzt ein Mann die Frau mit Hosenanzug und Zylinder verkörpert, die schließlich selbst nichts von Schubladisierung in Sachen Geschlecht hielt, sondern im Gegenteil als Pionierin für eine Libertinage im Berlin der 1920er stand. Ratzke – der am Renaissance-Theater mit Unterbrechungen nun auch schon seit zehn Jahren im Erfolgsstück „Hedwig and the Angry Inch“ auf der Bühne steht – sucht nicht die Travestie.

Er spielt eine Frau, die mit dem selbstgeschaffenen Image ringt – verdammt zur ewigen Diva, zum lasziven Vamp. Eine Künstlerin, die keinen Weg findet, in Würde und öffentlich zu altern, sondern sich über Jahre in ihrer Pariser Wohnung verschanzt und die Welt aussperrt.

„Ich bin nicht geboren, ich bin erfunden“, heißt es im hinzugeschriebenen Eröffnungsmonolog der niederländischen Autorin Connie Palmen. Und das ist durchaus programmatisch zu verstehen. Der erste Teil des zugrunde liegenden, neu bearbeiteten Stücks von Pam Gems spielt Backstage, zwischen Bett und unerbittlichen Spiegeln, mit denen Ezio Toffolutti die Bühne umstellt hat.

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Hier bereitet sich die gealterte Dietrich als Gefangene des Marlene-Seins – umsorgt von ihrer Assistentin, der jungen Schauspielerin Viv (Johanna Asch) – auf eine anstehende Tournee vor. Ausverkauft? „Fast“, kommt als Antwort. Nicht das, was ein Ruhm-Junkie hören will. Entsprechend unheilvolle Töne mischt der Pianist Jetse de Jong ins Sehnsuchtslied „Wenn ich mir was wünschen dürfte“.

Es ist, vor allem vor der Pause, eine sehr melancholiebetonte „Marlene“, ein Stück vom Sunset Boulevard der Karriere, durchsetzt von Erinnerungen an die großen Erfolge mit Regisseur Sternberg, aber auch an Schmähschriften von Deutschen mit kaum zu vertreibendem Nazi-Nebel im Kopf, die der Dietrich den Weggang in die USA nie verzeihen wollten. Die Hassgeliebte, die sich selbst als heimatlos und wohnhaft in Garderoben bezeichnet, setzt dagegen Selbstbehauptungstrotz: „Ich bin eine Ikone, ich mache keine Fehler“.

Nach der Pause ist sie dann im Konzert zu erleben – und auch dieser Teil glückt vollends. Weil Ratzke und Pianist De Jong all die stürmisch erwarteten Chansons und Evergreens weitestgehend vom Pathos und der Patina des zu oft Gehörten entkleiden. „La vie en rose“, „Sag mir, wo die Blumen sind“, „Lilli Marleen“, natürlich „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ – all diese Lieder werden neu hörbar als Momente größtmöglicher Ehrlichkeit, in denen die Dietrich Freiheit von ihrer eigenen Kunstfigur findet. Am Ende gibt es Standing Ovations. Berlin hat eine neue „Marlene“.

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