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Szene aus „The Walls of Bergamo“.

© ILBE

Den Toten ein Gesicht geben: „The Walls of Bergamo“ im Encounters-Wettbewerb der Berlinale

Die Nachrichtenbilder der Corona-Toten im norditalienischen Bergamo sind noch gut in Erinnerung. Dokumentarfilmer Stefano Savona wählt andere, um des Dramas zu gedenken.

Von Kerstin Decker

Lichter über der nächtlichen Stadt, Glocken und Sirenen gleichzeitig. Kurze Szenen bei Tage, Blicke in einzelne Gesichter, sehr nah, sehr ernst. Es sind Überlebende. Dann alte private Filmaufnahmen – wie letzte Bilder des Lebens, die das schwindende Bewusstsein der Sterbenden durchziehen?

Vor drei Jahren ging der Name einer kleinen oberitalienischen Stadt um die Welt und wurde zum Pseudonym für eine Bedrohung, die alle treffen konnte und die noch niemand verstand. Der Tod kam nach Bergamo, 4500 Menschen starben allein in den ersten Wochen.

Doch wie einen Film darüber machen und warum wieder an den Schmerz rühren? Selten hat man so gespürt wie hier in Stefano Savonas Film, dass das Kino wahrscheinlich aus derselben Wurzel kommt wie alle menschliche Kultur, aus der des Totengedenkens.

Wie alt ist der Kranke?

Keines von den Nachrichtenbildern, die damals so erschreckten, sehen wir hier. Stattdessen abendliche Blicke hinauf zu erhellten Fenstern, hinter denen bis eben Zuhause, Zuflucht, Sicherheit war und in die jetzt der Tod Einzug hält. Darüber legt Savona Telefonstimmen. Menschen versuchen, Krankenhäuser zu erreichen. Doch die Erleichterung, dass jemand antwortet, währt nicht lange. Wie alt ist der Kranke, 91? Wir beatmen keinen 91-Jährigen. Seine Chancen sind zu gering, der Sauerstoff zu knapp. Und nein, auch woanders brauchen sie es nicht zu versuchen.

Stefano Savonas Kamera assistiert im Krankenhaus. Aber es sind nicht die Bilder der Patienten unter den monströsen Ballons, die mühsam nach Atem ringen, die das Ausmaß der Katastrophe verdeutlichen. Aber wenn eine ältere Frau auf dem Krankenbett sagt, erst sei ihr Mann gestorben, dann ihr Sohn, wird es deutlich. Und sie allein ist noch übrig? Die Genesende bittet um einen Tag länger im Krankenhaus, ihr leeres Zuhause würde sie nicht aushalten. Eine andere argwöhnt, ihr Schwiegersohn habe schon alles, was ihr gehörte, weggeworfen, denn mit ihrer Rückkehr war nicht zu rechnen. Wie zu Pestzeiten läuten die Totenglocken nicht mehr, sie wären sonst den ganzen Tag zu hören.

Savona gelingt es, die Atmosphäre einer tief erschütterten Stadt einzufangen. Und dann wird es Frühling in Bergamo. Die Natur beginnt ganz von vorn, die Menschen auch? Nein, unmöglich. Unser Zeitalter, die Moderne, mag gedächtnislos sein, der Mensch aber kann so nicht leben. Savonas Kamera begleitet die Versuche der Bürger von Bergamo, den Toten ihr Gesicht wiederzugeben, sie wieder zu Einzelnen zu machen, ihre Geschichten zu erzählen. Das große Konzert auf dem Hauptfriedhof der Stadt ist auch für die Lebenden, aber vor allem für die Gegangenen. Das trägt über mehr als zwei Stunden.

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