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Averroès & Rosa Parks, FRA 2024, Regie: Nicolas Philibert, Berlinale Special 2024.

© TS Productions

„Averroès & Rosa Parks“ auf der Berlinale: Die Vernunft der psychisch Kranken

Pariser Psychatriepatienten erzählen. Goldbären-Gewinner Nicolas Philiber zeigt seinen neuen Dokumentarfilm „Averroès & Rosa Parks“ im Berlinale Special.

Von Kerstin Decker

Mit dem Vorgänger von „Averroès & Rosa Parks“ hat Nicolas Philibert im letzten Jahr den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. „Auf der Adamant“ war der einzige Dokumentarfilm unter lauter Spielfilmen, von Filmkunst konnte nicht die Rede sein, und insofern war diese Auszeichnung wohl auch eine Kränkung für alle, die ein Kino-Universum erst schaffen, statt es vorzufinden. Auch diesmal ist zur filmischen Seite nur zu sagen: Es genügt, eine Kamera halten zu können und die Bilder nicht zu verwackeln. Aber das ist in Ordnung, die reine Szene genügt.

Die reine Szene, das sind zweieinhalb Stunden lang Gespräche, die Pfleger der beiden psychiatrischen Stationen „Rosa Parks“ und „Averroés“ in Paris mit ihren Patienten führen. Meistens reden letztere.

Wer Nietzsche gelesen hat und durch Nizza läuft, glaubt gewöhnlich nicht, dass er Nietzsche in Nizza ist. Der Mann mit orangem Dalai-Lama-Überwurf und gestrickter Kippa aber konnte diese Verwandlung nicht aufhalten. Der belesene buddhistische Jude (Selbstauskunft) möchte das westliche Bildungssystem reformieren; er ist ein Selbst-Beauftragter von hohen Graden, so dass sein Verstand wohl irgendwann zum Selbstschutz einen Sprung bekam. Fast alle Patienten der beiden psychiatrischen Stationen kennen den täglichen kleinen Grenzverkehr mit Verstorbenen, Verfolgern und sonstigen Mächten, mit denen sie sich verständigen müssen.

Das Holzschiff „Adamant“

Was wir ihnen voraus haben, ist oft nur der Zugang zu einer seltsamen Bewusstseinsebene, die wir „die Wirklichkeit“ nennen. Nicht jeder hat hier Zutritt. Die Bewohner von „Rosa Parks“ und „Averroés“ brauchen meistens etwas mehr Betreuung und Sicherheit als die Besucher auf der „Adamant“, diesem wunderbaren Holzschiff auf der Seine, das eine psychiatrische Tagesklinik ist.

Alles was über Jahrhunderte im Umgang mit Geisteskranken geboten schien - wegsperren und stumm machen - soll vermieden werden. Früher galten sie als Tiere, denn ihnen fehlte offenkundig, was den Menschen auszeichnet: das klare Licht der Vernunft. Heute ist klar, dass sich ihre Vernunft bloß etwas zerlegt hat, ungefähr so wie im Abspann des Films die Musik. Es ist Beethovens „Ode an die Freude“, nur scheint sie den Instrumenten fortwährend zu zerfallen und sich mühsam neu zusammenzusetzen. Aber es ist noch immer dasselbe Stück.

Alles Bemühen der Pfleger und Psychologen von Rosa Parks und Averroès geht dahin, den Menschen mit dem erweiterten Wirklichkeitsbegriff und nicht ganz kontrollierbaren Verhalten nicht nur eine Gegenwart, sondern auch eine Zukunft zu geben. Das ist ein wirklicher Wandel der conditio humana, der in Philiberts Filmen die Aufmerksamkeit findet, die er verdient.

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