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Kein göttliches Zeichen. Jenny (Hannah Herzsprung) hat der Welt nur den Krieg erklärt.

© Dor Film-West / Four Minutes Filmproduktion / Wild Bunch

„15 Jahre“ im Kino: Komposition für Piano und Baseballschläger

Was ist aus dem musikalischen Wunderkind Jenny von Loeben geworden? 15 Jahre nach „Vier Minuten“ versuchen Regisseur Chris Kraus und Hannah Herzsprung an ihren Erfolg anzuknüpfen.

Von Andreas Busche

Jenny spielt jetzt im Team Jesus. So steht es zumindest auf dem Bus ihrer christlichen Einrichtung, in der sie nach dem Ende ihrer Haftstrafe auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet wird. Soziabel ist die 42-Jährige nur bedingt, aber das Kirchenlied „Ins Wasser fällt ein Stein“ spielt das ehemalige Wunderkind auf dem kleinen Piano im Gruppenraum ihres Wohnheims immer noch mehr als passabel.

Wenn nur nicht diese Flashbacks an die Zeit vor ihrer Verurteilung wären: an ihren damaligen Lover – früher Sänger einer Punkband, heute der Star einer Castingshow –, für den sie 15 Jahre zuvor einen Mord auf sich genommen hat. Jenny würde ihm zu gerne noch mal einen Besuch abstatten: bewaffnet mit einer Eisenstange, versteht sich.

Vom Sleeperhit zum Kultfilm

Die Rolle Jenny von Loeben bedeutete für Hannah Herzsprung 2007 den Durchbruch als Schauspielerin. Es war eine entfesselte Performance, die maßgeblich dazu beitrug, dass Chris Kraus’ anfangs unterschätzter Film „Vier Minuten“ vom Sleeperhit zum deutschen Kultfilm – und Lola-Gewinner – avancierte. Seine Faszination hatte nicht zuletzt auch damit zu tun, dass das Drehbuch mit kolportagehaften Elementen liebäugelte – sexueller Missbrauch und NS-Vorgeschichte –, wie man es sonst eher aus dem Exploitationkino kennt.

Jennys abrupte Gewaltanwandlungen und die aufkeimende Freundschaft zwischen dem auf die schiefe Bahn geratenen Jungtalent und ihrer traumatisierten Klavierlehrerin bedienten von gegenüberliegenden Enden des emotionalen Spektrums ein Pathos, das stets auf brachiale Katharsis abzielte.

Dass Kraus und Herzsprung nach 15 Jahren noch einmal zu dieser Konstellation von emotionalen Intensitäten zurückkehren, hat wohl weniger mit der seriellen Logik des gegenwärtigen Unterhaltungskinos zu tun. Ein Jenny-Franchise löst „15 Jahre“ sicher nicht aus, am Kultstatus des Originals wird er allerdings auch nicht kratzen.

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Kraus hat diese Sorte Affektkino inzwischen zu seinem Markenzeichen gemacht, Adèle Haenel teilte in „Die Blumen von gestern“ von 2017 ebenfalls ordentlich aus. Das Sequel zu „Vier Minuten“, so lange dauerte damals das Klavierstück beim „Jugend musiziert“-Wettbewerb, scheint vielmehr von der Frage bewegt zu sein, was aus einer der ungewöhnlichsten Frauenfiguren des jüngeren deutschen Kinos geworden ist.

Die Antwort fällt enttäuschend aus, obwohl Kraus nochmal alle Gefühlsverstärker aufbietet, die das deutsche Kino zu bieten hat. Jenny ist immer noch die Alte. Herzsprung bleibt also gar keine andere Wahl, als sich mit ihrer ganzen Leidenschaft schonungslos diesen Versatzstücken eines Drehbuchs entgegenzustürzen.

Jenny und der Löwe

Das Gesicht der 42-jährigen Jenny von Loeben sieht hart und verlebt aus (eine Hommage an Charlize Theron in „Monster“ und Nicole Kidman in „Destroyer“), ihr Handrücken ziert das Tattoo einer Pistole, deren Bedeutung man erst gegen Ende, nach langen 143 Minuten, versteht. Jenny hat der Welt den Krieg erklärt. Ob das an den Bedingungen in deutschen Gefängnissen liegt, lässt „15 Jahre“ offen. „Ich wollte kein Sozialdrama machen“, sagt Kraus im Presseheft. Stattdessen hat er seinem Film ein Zitat des amerikanischen Buddhisten Jack Kornfield vorangestellt: „Vergeben bedeutet, jede Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben.“

Omar (Hassan Akkouch) will Jenny (Hannah Herzsprung) davon überzeugen, ihre Talente für eine Castingshow herzugeben.
Omar (Hassan Akkouch) will Jenny (Hannah Herzsprung) davon überzeugen, ihre Talente für eine Castingshow herzugeben.

© Dor Film-West / Four Minutes Filmproduktion / Wild Bunch

Gesellschaft im weiteren Sinne bleibt ohnehin ein abstraktes Konzept, Kraus’ Film existiert allein in dem engen Raum, der den Figuren zugestanden wird. Infolgedessen kann „15 Jahre“ immer wieder mit hochgradig bizarren Szenen aufwarten, die in einem erzählerischen Vakuum zu spielen scheinen. Etwa die Begegnung Jennys mit einem Löwen, der nachts durch einen leeren Flughafen streunt; als ein Wachmann das Tier erschießt, haut sie ihrem Retter zum Dank noch eine rein. Es ist aber kein Albtraum, so sieht bloß die Realität im Jahr 2023 aus.

Die geduldige Leiterin ihres Sozialprojekts, Frau Markowski (Adele Neuhauser), ist die einzige Figur, die von Jenny Rechenschaft für ihre Taten einfordert. Darum wird ihre Gruppe als Putzkolonne in Jennys ehemaliges Konservatorium geschickt, wo die gefallene Musterschülerin erst das Spiel einer jungen Studentin herabwürdigt und dann von einem früheren Kommilitonen erkannt wird.

Albrecht Schuch als Westentaschen-Campino

Der Gutmensch Mangold (Christian Friedel mit alberner Ned-Flanders-Frisur – wenn einem schon nichts Lustigeres einfällt) will das einstige Wunderkind für eines seiner karitativen Projekte gewinnen. Jenny soll den syrischen Sänger und Pianisten Omar (Hassan Akkouch), dem islamische Fundamentalisten den Arm abgehackt haben, beim Auftritt in der Live-Sendung „Unicorn“, einer Castingshow für Menschen mit Behinderung, am Klavier begleiten.

Gimmiemore (Albrecht Schuch) hat es vom Sänger einer Punkband zum Fernsehstar geschafft.
Gimmiemore (Albrecht Schuch) hat es vom Sänger einer Punkband zum Fernsehstar geschafft.

© Dor Film-West / Four Minutes Filmproduktion / Wild Bunch

Diese Idee ist an sich schon ziemlich irre – wie überhaupt das Konzept der Show –, sie wird aber noch übertroffen von dem Twist, dass Jennys Jugendfreund, inzwischen bekannt als der Popstar Gimmiemore (ein blondierter Albrecht Schuch), auch der Jury-Star von „Unicorn“ ist. Wegen ihm saß sie im Gefängnis, wegen ihm verlor sie ihr Baby. Die Castingshow verschafft Jenny nun die Chance, sich am ehemaligen Lover zu rächen. Dafür nimmt sie sogar in Kauf, mit dem „Kameltreiber“ (O-Ton) aufzutreten.

Wenn etwas an „15 Jahre“ Sinn ergibt, dann ist es Herzsprung, die impulsgesteuert durch den Film marschiert. Da kann nicht mal Schuchs hypertropher Auftritt als Westentaschen-Campino mithalten. Method Acting ist die einzige Möglichkeit, dem Maximalismus-Prinzip von Kraus’ Dramaturgie (Löwe, Kindstod, syrischer Bürgerkrieg, Krebs im letzten Stadium) noch etwas entgegenzuhalten. Eine fein gezeichnete Charakterstudie ist „15 Jahre“ nicht. Eher schon ein Melodram mit Baseballschläger.

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