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Gute-Laune-Macher. Mit ungewöhnlichen Aktionen wie dieser mit Gratis-Umarmungen werben die ehrenamtlichen Zuhörer für ihr Angebot.

© Nightline Potsdam

"Nightline" hilft Potsdamer Studierenden: Hoch den Hörer

Prüfungsstress, Liebeskummer, Sinnkrise, aber keinen zum Reden? Das Potsdamer Studierendentelefon „Nightline“ hilft. An fünf Abenden pro Woche hören Freiwillige zu – bei großen und kleinen Problemen.

Potsdam - „Hallo, hier ist die Nightline Potsdam.“ „Hallo. Ich hab ein Problem. Ich fühle mich oft einsam, finde keine Freunde, hab keinen Anschluss an der Uni.“ So oder so ähnlich beginnen gerade zu Semesterbeginn viele Gespräche bei der „Nightline“, einem Hilfetelefon für Studierende in der bei vielen jungen Leuten beliebten Universitätsstadt. Aber nicht nur Einsamkeit, auch Überlastung, Beziehungsprobleme und Stress in der WG sind immer wieder Thema bei den anonymen Gesprächen.

Emily, die eigentlich anders heißt, ist schon seit zwei Jahren für die Nightline am Telefon. „Ich will anderen Menschen helfen und hab’ schon immer gerne zugehört“, sagt sie. Mit etwa 20 anderen Telefonisten teilt sie sich die Dienste. Bevor ein Freiwilliger ans Telefon darf, durchläuft er eine Wochenendschulung. Hier wird das sogenannte nondirektive Zuhören geübt. „Wenn jemand anruft und von seinem Problem erzählt, versuche ich, den Inhalt zu erfassen und das Problem durch systematische Fragen einzukreisen“, erklärt Emily. Der Anrufer bekommt Raum, seine Gedanken zu ordnen und nachzudenken. Im Idealfall findet er schließlich selbst eine Lösung seines Problems. „Und manchmal reicht es auch schon, sich den ganzen Ärger einfach von der Seele zu reden“, weiß Emily. In der Schulung werden auch Ernstfälle durchgesprochen: Was mache ich, wenn jemand anruft, der akut suizidgefährdet ist? „Zum Glück bleiben solche Fälle meist theoretisch“, sagt Alexandra vom PR-Team, die ihren Nachnamen zum Schutz der Privatsphäre aller Beteiligten lieber nicht in der Zeitung lesen möchte.

Damit im Ernstfall aber nicht ein „Nightline“-Zuhörer mit der ganzen Last alleine klarkommen muss, sind immer mehrere Nightliner gleichzeitig in dem Büro irgendwo in Potsdam im Dienst.

„Dann können wir direkt über das Telefonat sprechen und müssen die Probleme nicht mit nach Hause nehmen“, erklärt Emily. Außerdem gibt es ein internes Netzwerk, über das die Telefonisten auch zu den Dienstzeiten andere Nightliner erreichen können. Und auch sonst wird viel für die Psychohygiene der Mitarbeiter getan: Es gibt regelmäßig Angebote zur Inter- und Supervision, wo intern oder mit einer externen Fachkraft schwierige Fälle und wiederkehrende Probleme aufgearbeitet werden.

Warum ist die Nightline als Studierendentelefon so wichtig, wo es doch auch viele andere Beratungsstellen und Telefondienste gibt? Ein Hinweis ist diese aktuelle Studie: Die Techniker Krankenkasse berichtete in ihrem Gesundheitsreport 2015, dass die psychische Belastung von Studierenden immer größer wird. Mehr als die Hälfte von ihnen fühlt sich regelmäßig unter Stress, 20 Prozent haben ärztlich diagnostizierte psychische Erkrankungen. 2014 bekamen fast vier Prozent der Studierenden Antidepressiva verordnet.

Daher findet Beate Müller von der Telefonseelsorge Potsdam das studentische Zuhörangebot ausgesprochen wichtig. „Studierende haben spezielle Themen, da ist die Nightline näher dran als wir“, sagt Müller. Auch die Nightliner hoffen, dass die Hemmschwelle, irgendwo anzurufen, niedriger ist, wenn der Anrufer weiß, dass am anderen Ende der Leitung auch ein Student sitzt. „Wir sind meist in der gleichen Lebensphase wie die Anrufer und kennen die Probleme nicht nur theoretisch“, sagt Emily. Trotzdem geben sie keine praktischen Tipps. „Dafür sind wir nicht geschult. Wir hören einfach nur zu.“ Das hilft erfahrungsgemäß schon sehr. Denn bei psychologischen Beratungsstellen sind die Wartezeiten oft lang. Bei der Nightline finden Hilfesuchende noch am Abend nach dem heftigen WG-Streit oder während der stressigen Prüfungsphase ein offenes Ohr.

Die Nightline startete 2011 in Potsdam, damals zunächst mit Diensten an drei Abenden in der Woche. Inzwischen erreichen Hilfesuchende zur Semesterzeit von Sonntag- bis Donnerstagabend jemanden, jeweils von 21 bis 24 Uhr. In den Semesterferien teilen sich die deutschsprachigen Nightlines die Schichten. 40 Freiwillige engagieren sich in Potsdam, nicht nur im Telefondienst.

Auch Leute für die Finanzen, die Öffentlichkeitsarbeit, Technik oder Recherchedienste werden immer wieder gebraucht. Das Team ist bunt gemischt: Vom Bachelor- über den Masterstudenten bis hin zum Doktoranden ist alles vertreten, auch aus jeder Studienrichtung ist jemand dabei. „Klar haben wir viele, die Psychologie studieren, aber auch Natur- und Geisteswissenschaftler, Lehrämtler, die ganze Bandbreite“, sagt Alexandra.

Damit jeder Studierende in Potsdam von dem Angebot weiß, machen die Nightliner immer zu Semesterbeginn Werbung an den Unistandorten. In der sogenannten Awarenessweek gibt es an jedem Campus Flyer, Infomaterial und Umarmungen für alle: Die Telefonisten verteilen „Free Hugs“ für jedermann. In Tierkostümen – um die Anonymität zu wahren, und auch, um dem ernsten Thema einen lockeren Rahmen zu bieten. „Wir wollen, dass Studierende von uns wissen – schließlich hat jeder Mensch irgendwann einmal Probleme“, sagt Emily. Und dann ist es gut, wenn es jemanden gibt, der zuhört.

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