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Historisches Quartett diskutierte neue Bücher

„Das ist ein atemberaubend gutes Buch“, fand die Historikerin Annette Vowinckel. „Gekaufte Zeit“ von Wolfgang Streeck ist eines der Bücher, die beim „Historischen Quartett“ besprochen wurden. Streeck stellt darin die These auf, dass die historischen Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte dem Kapitalismus eine Schonfrist vor dem Kollaps beschert hätten.

Im Halbjahresrhythmus treffen sich Wissenschaftler des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF), um aktuelle Bucherscheinungen vor und mit dem Publikum zu diskutieren. Streeck analysiere die Veränderung der Demokratie durch den Kapitalismus, so Kathrin Kollmeier vom ZZF. Er enttarne die EU als Liberalisierungsmaschine des Kapitals. Jan-Holger Kirsch lobte, dass der Autor das mittlerweile angestaubte operative Besteck des Marxismus wieder handhabbar mache. Weniger Sympathie brachte allerdings der Direktor des ZZF, Frank Bösch, Streeck entgegen. Das Buch sei in Soziologendeutsch geschrieben, wissenschaftlich nicht überzeugend und die Theorien der 1970er-Jahre, auf die sich der Autor berufe, erläutere er auch nicht. Streeck ist allerdings Direktor des Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung, weshalb der Jargon nicht sonderlich überrascht.

Die Neuordnung der Welt in den vergangenen Jahrzehnten war auch das Thema der anderen beiden besprochenen Bücher: „Der verlorene Himmel“ von Thomas Großbölting und „Stille Revolutionen“, ein Sammelband mit mehr als 20 Essays. Meist herrschte Einigkeit unter den Diskutanten über die Qualität und Schwächen der Werke. Insbesondere die „Stille Revolution“ gefiel recht gut. Es sei ein Genuss, die kurz gefassten Sentenzen zum Alltagsleben nach dem Mauerfall zu lesen, stellte Kathrin Kollmeier fest. Der Familientrabi namens „Otto“ tauche in einer der Geschichten auf und auch auf das russische Wohnzimmer werde ein liebevoller Blick geworfen. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus habe in Osteuropa Ikea Einzug gehalten, so einer der Essayisten. Früher habe man alles aufbewahrt, weil es ja vielleicht noch einmal verwendbar sei. Heute habe sich auch in Russland die Wegwerkgesellschaft mit entsprechenden Einwegprodukten breitgemacht. Der kleinteilige, mit Sympathie teilnehmende Blick unterscheide die Autoren des Essaybandes grundlegend von der eher dozierenden Attitüde Streecks.

Eher als gut lesbares, statistisch untermauertes Faktenkompendium komme dagegen „Der verlorene Himmel“ daher, meinte Frank Bösch. Starke und nachvollziehbare Thesen zur Entwicklung der Religionen nach 1945 liefere das Buch. Allerdings fänden sich auch einige interessante Randnotizen. Beim „Oxenfurther Zwischenfall“ in den 50er-Jahren habe sich beispielsweise ein katholischer Bischof standhaft geweigert, eine Zuckerfabrik gemeinsam mit seinem evangelischen Kollegen einzuweihen. Der Letztere habe deshalb dem Katholiken die Zeremonie überlassen. Zwar gehe das Buch auch auf Islam und Judentum ein, allerdings nur sehr schmal, findet Kollmeier. Kirsch merkt an, dass es auch hier an sich einiges Historisches zu forschen gebe: „Als es in Deutschland noch keine Moscheen gab, haben Muslime im Kölner Dom gebetet. So etwas wäre ja auch mal eine Erwähnung wert.“

Nicht um religiösen, sondern um politischen Richtungsstreit ging es in dem Film „No“ von Pablo Larraín, der diesmal neben den Büchern besprochen wurde. Thema ist das Plebiszit, mit dem der Diktator Pinochet dem chilenischen Volk die Wahl darüber ließ, ob es sich für freie Wahlen entscheide. Eine Werbeagentur sollte die Abstimmung im Sinne der Regierungsgegner vorbereiten und gestaltete die Kampagne wie eine Coca-Cola-Werbung. Folter und Mord der Diktatur waren kein Thema. Das habe die Betroffenen sehr vor den Kopf gestoßen, stellt Bösch fest. Dennoch, oder gerade deshalb, sei die Kampagne erfolgreich gewesen. Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

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