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Homepage: Der Weg als Bestimmung Aufzeichnungen eines Potsdamer Polarforschers

Um Schneemangel braucht sich im sibirischen Jakutsk niemand zu sorgen. Die aktuellen Höchsttemperaturen liegen derzeit bei 35 Grad unter Null.

Um Schneemangel braucht sich im sibirischen Jakutsk niemand zu sorgen. Die aktuellen Höchsttemperaturen liegen derzeit bei 35 Grad unter Null. Aber auch dort, nördlich des Polarkreises, gibt es einen Sommer. Und den nutzen die Potsdamer Geologen vom Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung seit vielen Jahren für ihre Untersuchungen der eishaltigen, über Jahrtausende im Dauerfrostboden gewachsenen Bodenhorizonte. Sie geben Aufschluss über das Klima der Vergangenheit. Im September erst kehrten die Forscher von einer Expedition ins Lena-Delta zurück. Unter ihnen auch Dr. Guido Große, der schon als Geologiestudent an Arktisexpeditionen des Instituts beteiligt war und seither gepackt ist von der Anziehungskraft dieser unwirtlichen wie faszinierenden Landschaft am tiefgefrorenen Rand der Welt.

„Ayan“, zu deutsch der „Weg“ oder die „Reise“ ist nach dem jakutischen Schamanenkalender seine Bestimmung, prophezeiten ihm zwei Frauen während eines Aufenthalts in Jakutien. 2001 weilte Guido Große mehrere Wochen in der Hauptstadt des Landes, um im dortigen Institut für Permafrostforschung Archiv- und Kartenmaterial zu sichten. Seine Eindrücke und Erlebnisse, die er als elektronische Botschaften nach „draußen“, in die Welt vor dem Ural sandte, sind inzwischen als „Letters from the other side“ in dem bei Strauss erschienenen Buch „Sibirischer Sommer“ nachzulesen.

Guido Große schreibt mit dem unbefangenen Blick des erkundenden Forschers und gibt doch zu, nicht ohne Vorurteile gewesen zu sein. Gleich zu Beginn zeigt sich ihm die Tristesse grauer Plattenbauten vor den vom Frost geschliffenen alten Holzhäusern. Die staubige Szenerie eines trockenen Sommers aber erhält einen überraschenden Kontrast, als sich Große auf dem Markt wiederfindet – einem Basar wie im Orient mit Melonen, Datteln, Pfirsichen und Nüssen, die Händler aus Usbekistan und Kasachstan herangeschafft haben.

Diese Widersprüche sind es, die den Autor reizen. Ganz ohne den Anspruch, dokumentarisch zu schreiben, vermittelt er dem Leser doch viel über die ferne Region, deren Reichtum an Kohle, Gold und Diamanten sich keineswegs in den Lebensverhältnissen widerspiegelt. Noch immer klaffen hier im weltweiten Informationsnetz riesige Löcher und es kostet einige Nerven, bis die ersten Nachrichten nach Hause gemailt werden können. Die Ungeduld aber, mit dem der Mitteleuropäer auf die technischen Unzulänglichkeiten reagiert, trifft auf eine liebenswürdige Gelassenheit der Einheimischen, deren Lebenshaltung von der Weite der Steppen und Wälder und der Respekt einflößenden Mächtigkeit der Flüsse Lena und Aldan geprägt scheint.

Keine falsche Erwartung, sondern leidige Erfahrung der Polarforscher ist hingegen die ständige Bedrohung durch Armeen blutsaugender Insekten. So zieht sich Großes „Verschwörungstheorie“ von einer ausgeklügelten Strategie der heimtückischen Meuchelmoskitos und Beißfliegen, die kleine Brocken aus der Haut reißen und rote Hügellandschaften zurücklassen, wie ein Mückenschwarm durch das ganze Buch. Nicht weniger amüsant sind Großes kulinarische Entdeckungen: der bittere Biss in die falsche Seite eines Trockenfischs, ein prickelnder Schluck vergorener Stutenmilch und schließlich ein jakutisches Menü mit viel Fisch, Seetang und scharfen Pilzen.

Spätestens aber, wenn Große beschreibt, wie er am Lena-Strand aus 20 Millionen Jahre altem Holz, das aus dem vom Eis durchsetzten Steilufer herausragte, ein Lagerfeuer entzündet, wird man wieder gewahr, dass hier ein Geologe unterwegs ist. Seine „Briefe von der anderen Seite“ tragen dazu bei, dass die für die Klimaforschung so bedeutsamen Untersuchungen am vermeintlichen „Rand“ der Welt in die Mitte unserer Aufmerksamkeit rücken. Antje Horn-Conrad

Antje Horn-Conrad

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