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Homepage: „Das Nichtsichtbare sichtbar machen“

Professor Dieter Mersch von der Universität Potsdam über das neue DFG-Graduiertenkolleg „Sichtbarkeit und Sichtbarmachung“, die Grenzen der Darstellbarkeit und das Täuschungspotenzial von Bildern

Herr Mersch, „Sichtbarkeit und Sichtbarmachung – hybride Formen des Bildwissens“, das Thema Ihres nun gestarteten Graduiertenkollegs klingt recht kryptisch.

Wir beschäftigen uns vor allem mit Bildprozessen in Wissenschaft und den Künsten. Wir wollen beide miteinander verbinden. Das reicht von mathematischen Graphen über Netzwerkmodelle und Studien der Augenbewegung bis hin zu Ikonen, Filmen oder mittelalterlichen Buchillustrationen. Wir betrachten darüber hinaus visuelle Strategien in künstlerischen Installationen, Veränderungen im Begriff der Öffentlichkeit oder Darstellungspraktiken in der Mode.

Es geht Ihnen um ein Wechselspiel zwischen Sichtbarkeit und Sichtbarmachung.

Der Mensch sieht nicht nur einfach etwas, vielmehr bedarf es einer Vielzahl an medialen Bedingungen oder technischen Eingriffen, um überhaupt etwas Sichtbares darzubieten. Es geht also einerseits um die Seite der Bildproduktion. Die Seite der „Sichtbarkeit“ fragt dagegen nach der Rezeptionsseite: Wie entsteht Aufmerksamkeit, wie nehmen wir wahr?

Sie sprechen auch von starkem Anwendungsbezug.

Wir haben da beispielsweise die Arbeit einer Mathematikerin vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Dabei geht es um spezielle Netzwerkanalysen in der Klimaforschung. Netzwerke sind Visualisierungsformen, die sehr komplexe Datenmengen darstellen können, sodass Informationen in kürzester Zeit sichtbar werden. Manchmal sind Darstellungsweisen notwendig, die die klassische Zweidimensionalität überschreiten, man muss hier zum Beispiel in drei Dimensionen arbeiten. Dabei stößt man auf ganz eigene Grenzen der Darstellbarkeit.

Sie halten Ihre Forschung für ein Kernthema der Geistes- und Naturwissenschaften. Womit begründen Sie das?

Seit rund 20 Jahren sprechen wir von einer Wende zum Bildlichen, von einem „pictorial“ oder „iconic turn“. Üblicherweise standen in den Geistes- und Naturwissenschaften Texte, mathematische Strukturen oder Formeln, kurz: die Sprache im Vordergrund. So sprach man Anfang des 20. Jahrhunderts sogar von einer „Krise der Anschauung“. Viele mathematische Modelle waren so abstrakt, dass sie sich nicht veranschaulichen ließen. Viele Bereiche, in die die Naturwissenschaften vordringen sind eigentlich unsichtbar. Aber seit einigen Jahrzehnten gibt es eine verstärkte Bemühung, auch das Nichtsichtbare sichtbar zu machen.

Das betrifft sicher nicht nur die Wissenschaft?

Durch digitale Medien erleben wir darüber hinaus einen Boom der Verbildlichung, was geradezu dazu zwingt, sich mit Bildfragen auseinanderzusetzen. Das hat auch etwas mit unserer direkten Lebens- und Arbeitsweise zu tun: Schließlich sitzen die meisten von uns täglich viele Stunden vor dem Bildschirm - letztlich auch ein Bild, ein „Interface“. Eine der Arbeiten, die bei uns entstehen, beschäftigt sich gerade damit: der Geschichte des „Interface“.

Was zeichnet die bildliche Kommunikation aus?

Bilder funktionieren anders als Sprache oder mathematische Formeln. Man sieht auf einen Blick eine Vielzahl von Daten, eine komplizierte Szene, eine ganze Geschichte. Durch Visualisierungen werden Informationen so komprimiert, dass es beispielsweise möglich wird, Strukturen oder Muster zu erkennen, die durch reine Modelle oder Zahlen nicht deutlich werden können. Anderseits gibt es auch Grenzen. In Bildern sind zum Beispiel Unsicherheiten schwer darstellbar. Nehmen Sie etwa die Darstellung eines Atoms. Atome sind nicht darstellbar – trotzdem haben wir seit der Nanotechnik Bilder von ihnen. Es handelt sich um Hypothesen: Es könnte so aussehen – aber im Bild erscheint es, als sei es so. Man hat deswegen immer schon das Täuschungspotenzial von Bildern betont.

Die digitalen Medien haben diese Entwicklung sicher noch beschleunigt.

Durch die Möglichkeiten der digitalen Medien, abstrakte Daten auf unterschiedliche Weise bildlich darstellen zu können, ist die Visualität derart präsent geworden, gerade auch in den Wissenschaften. In den verschiedensten Disziplinen wird nun versucht, viele Dinge sichtbar zu machen. Auf diese Weise soll die Materie leichter zugänglich gemacht werden. Und natürlich will man so auch Neues entdecken.

Sie erhoffen Sie sich von der Begegnung zwischen Kunst und Wissenschaft ein innovatives Potenzial. Inwiefern?

In mindestens zweierlei Hinsicht: Wenn man beispielsweise Daten sichtbar macht, um Strukturen darin zu entdecken, bewegt man sich dabei immer schon auf einer ästhetischen Ebene. Es ist eine Frage des Designs, wie Daten dargestellt werden. Andererseits ist die Kunst ein vorzügliches Reflexionsmittel. Sie vermag mit Bildern etwa auf die Grenzen visueller Darstellungen hinzuweisen oder unseren Blick so zu verunsichern, dass wir über die Macht und Zwiespältigkeit des Bildlichen nachzudenken beginnen. Anders als der Wissenschaftler, der Bilder meist gebraucht, reflektiert die Kunst mehr darauf, was und wie überhaupt etwas sichtbar wird.

Sie haben zum Start des Graduiertenkollegs eine Installation von Harun Farocki gezeigt. Was steckt dahinter?

Es handelt sich um eine Installation, die die Arbeit von Psychologen mit im Krieg traumatisierten Soldaten zeigt – und dabei Elemente benutzt, wie sie in Computerspielen benutzt werden. Erst allmählich aber zeigt sich, dass es sich nicht um eine Therapiesituation, sondern um eine Ausbildungssituation handelt: Nicht Soldaten erleben eine Stresssituation noch einmal, um sie zu verarbeiten, sondern Psychologen testen Versuchsanordnungen, sodass die Interpretationshypothese, mit der der Betrachter anfangs einsteigt, zunehmend verunsichert und auf den Kopf gestellt wird. Was wir denken, was wir sehen, wird befragt, woraus sich in Bezug auf die Bildbetrachtung eine Reihe von Instabilitäten ergeben.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Dieter Mersch ist Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs, das gestern an der Uni Potsdam eröffnet wurde. Er hat seit 2004 den Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Uni inne.

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