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Alte Verbindungen. In den frühen 1960er Jahren kam es zu einer Ballung von Mitarbeitern im Bundesinnenministerium, die zuvor Mitglieder der NSDAP gewesen waren.

© Peer Grimm / dpa

Aufarbeitung: Braune Lernprozesse

Potsdamer Studie: In keinem anderen Ministerium gab es nach dem Zweiten Weltkrieg so viele ehemalige NSDAP-Mitglieder wie im Bundesinnenministerium. Wieso die junge Demokratie dennoch standhielt und was im Osten anders lief.

Potsdam - Das Bundesinnenministerium (BMI) war in der Nachkriegszeit von allen bislang untersuchten deutschen Ministerien am stärksten mit ehemaligen Nationalsozialisten belastet. Zu diesem Fazit kommt die Studie „Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus“, die unter Leitung des Potsdamer Zeithistorikers Frank Bösch entstand. Am 19. Juni wurde sie im Bundesinnenministerium in Berlin präsentiert. Sie ist Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojektes mit acht Mitarbeitern, das Bösch, Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF), zusammen mit dem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin geleitet hat. Gemeinsam beleuchteten sie die Biographien aller leitenden Mitarbeiter und deren politisches Handeln.

DIE HÄLFTE WAR SA-MITGLIED

Während es im Westen um 1960 unter den leitenden Mitarbeitern rund 66 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder und fast 50 Prozent SA-Mitglieder gab, kam das Ministerium des Innern im Osten – trotz staatsdoktrinärem Antifaschismus – immerhin noch auf rund zehn Prozent. Abteilungen, die für nicht-polizeiliche Bereiche zuständig waren, hatten deutlich höhere Werte, etwa die Archiv-Abteilung bis zu 30 Prozent. „Gerade bei Experten für zivile Bereiche ließ die DDR bis Ende der 1950er Jahre eine gewisse Kontinuität zu“, erklärt Bösch im PNN-Gespräch.

Auch die Verwaltungskultur unterschied sich zwischen Ost und West. So zog im Innenministerium der DDR ein militärischer Geist ein, vor allem in den Abteilungen für die innere Sicherheit. „Mitarbeiter kamen in Uniform und mit Dienstwaffe zu ihrem Beamtenarbeitsplatz“, so Bösch. Sitzungen von Kollegien ergänzten die schriftliche hierarchische Kommunikation. „In Bonn hingegen knüpfte der bürokratische Ablauf an die Regeln der Weimarer Republik an.“

ALLE ABTEILUNGSLEITER BELASTET

Anfänglich hatte der erste Innenminister Gustav Heinemann 1949/50 versucht, bei Leitungsstellen möglichst unbelastete Personen einzustellen. Unter ihm gab es keinen einzigen Abteilungsleiter, der ehemals Parteimitglied gewesen war. Doch Heinemann setzte sich gegenüber Adenauer damit nicht durch. 1960 waren entsprechend alle Abteilungsleiter ehemalige NSDAP-Parteigenossen. Mitte der 1960er Jahre nahm der Anteil dann altersbedingt wieder ab. Die HJ-Generation löste sie ab – und die sowohl durch die NS-Zeit als auch bereits durch die junge Demokratie geprägt war. Dennoch gab es in Einzelfällen auch in den 1970er Jahren noch traditionelle am starken Staat orientierte Positionen im BMI.

Hintergrund der starken Zunahme in den 60er Jahren war vor allem der Paragraf 131, der die Wiedereinstellung von Beamten sicherte, die nach 1945 wegen ihrer Belastung ihre Posten verloren hatten. Mindestens 20 Prozent der Stellen wurden somit für sie nach der Einsetzung des Paragrafen freigehalten. „Das BMI erfüllte die Quote um das Doppelte“, so Bösch. „Es wurden gezielt eher unbelastete Verwaltungsleute aus der Besatzungszeit verdrängt mit dem Argument, dass sie keine Verwaltungserfahrung hätten.“ Dies sollte die Übernahme von Beamten verhindern, die der SPD nahe standen.

Während Heinemann und die Alliierten ehemalige Nationalsozialisten im Innenministerium als Sicherheitsproblem ansahen, galt es fortan als Gefahr, wenn diese Personen keine adäquaten Anstellungen hatten. „Die Einstellungen wurden als ein Moment der Demokratisierung gesehen, als eine integrative Kraft. Tatsächlich wurde so risikoreich Loyalität erkauft“, sagt Historiker Bösch. Stark belastete Personen, die auch vorgeschlagen wurden, sollten wiederum herausgehalten werden, etwa ehemalige Gestapo- und SS-Leute, von denen nur wenige Leitungsposten im BMI erhielten. „Ziel waren Mitarbeiter mit einer christlich-konservativen Position.“

ÖFFENTLICHER DRUCK

Zum Westen kommt die Untersuchung zu einem überraschenden Ergebnis: „Es waren weniger die Eliten, die die Deutschen nach dem Krieg von oben herab zu mehr Demokratie erzogen hatten, sondern es war oft sogar umgekehrt“, so der Befund des Forscherteams. „Die Bürokratie wurde vielmehr ein Stück weit auch von der Öffentlichkeit erzogen.“ Viele Gesetzesentwürfe oder Vorschläge aus dem Innenministerium kamen nicht durch, weil die Öffentlichkeit sie kritisierte.

So wurde zum Beispiel selbst das Referat für Jüdische Belange mit einem ehemaligen SS-Mann und NSDAP-Mitglied besetzt, mit Carl Gussone. Dieser lehnte Veranstaltungen zur Verständigung mit jüdischen Überlebenden als „untunlich“ ab und spielte den offenen Antisemitismus wie bei Hakenkreuzschmierereien herunter. Die Öffentlichkeit habe sich jedoch schließlich über die Medien und die Opposition zu Wort gemeldet und die rechten Schmierereien angeprangert. „Ende der 1950er Jahre wurde das so massiv, dass die Bundesregierung aktiv werden musste, da dies auch dem Ansehen des Landes schade.“ Zusammen mit den ersten NS-Prozessen führte dies zu einer Sensibilisierung.

Ähnliches zeigte sich gegenüber jüdischen Remigranten, die nach der Auswanderung nach Israel wieder zurückkamen, weil sie dort nicht zurechtkamen. Sie wurden in einem Durchgangslager im bayrischen Föhrenwald untergebracht. Im BMI überlegte man nun, wie man eine Abschiebung dieser „illegalen Juden“ in 48 Stunden organisieren könnte. „Auch hier gab es ein geringes moralisches Gespür dafür, was nach dem Holocaust geboten war“, sagt Bösch. Doch vor dem Lager Föhrenwald gab es Proteste. Den Abschiebungsplan musste das BMI zurücknehmen.

Auch bei der beabsichtigten Verschärfung des Presserechts zeigte die Öffentlichkeit Wirkung. 1952 gab es im BMI Bestrebungen, ein Bundespressegesetz einzuführen. Journalisten sollten bestimmte Aufgaben und Pflichten auferlegt werden. Ein solches Gesetz sollte es in der jungen BRD nach den Erfahrungen mit der NS-Propaganda gerade nicht mehr geben. In diesem Fall war es die Presse selbst, allen voran der Spiegel, der gegen die Vorstellungen des Referatsleiters Carl Lüders Sturm liefen, von einem Maulkorb des Obrigkeitsstaates war die Rede. „Mit Erfolg, das Bundespressegesetz wurde verhindert“, so Bösch.

Trotz dieser Gegenbewegungen kam das BMI aber skandalfrei durch die Nachkriegszeit. „Das lag auch daran, dass hier keine prominenten Nationalsozialisten saßen und unseres Wissens niemand direkt in Gewaltverbrechen verwickelt war“, lautet Böschs Erklärung dafür. Die Kampagnen aus der DDR gegen die „Nazis in Bonn“ hatten keine Folgen. Vielmehr säuberte Ost-Berlin seine Reihen erneut aus Angst vor Gegenkampagnen aus dem Westen.

FRÜHES DEMOKRATIEBEWUSSTSEIN

Dass sich trotz der starken Belastung des BMI die freiheitliche Demokratie im Westen Deutschlands durchsetzen konnte, scheint erstaunlich. Bösch erklärt das mit einem Sensibilisierungsprozess: „Die Politik hörte weitaus sensibler auf Stimmen aus der Öffentlichkeit, schnell wurden Dinge, die die Medien kritisch sahen, zurückgestellt.“ Seit den späten 1950er Jahren hätten sich zudem Lernprozesse verstärkt. Das Demokratiebewusstsein sei bereits schon vor dem Generationswechsel gewachsen, noch während die Zahl der Mitarbeiter mit NS-Kontinuitäten auf dem Höchststand war. 1969 mit der Neuaufstellung des Bundesinnenministeriums unter Hans-Dietrich Genscher (FDP) kam es dann zur kompletten Umstrukturierung des Ministeriums.

Die Erkenntnis der Zeithistoriker aus der doch eher paradox wirkenden Entwicklung: Im Westen schufen Mitarbeiter der NS-Bürokratie eine Demokratie, im Osten deren Gegner eine Diktatur. Der vergleichende Blick auf die DDR zeige zudem, dass auch mit unerfahren Kräften eine Verwaltung aufgebaut werden konnte, die im Rahmen der Systemlogik funktionierte. Im Unterschied zum Westen erhielten hier ältere Kommunisten Leitungsposten, darunter jüngere frisch angelernte Mitarbeiter, die oft mit 30 Jahren schon in Führungspositionen gelangten. Das Innenministerium der DDR hatte eine wichtige Funktion für die DDR-Verwaltung insgesamt und die innere Sicherheit, aber die SED behielt die Federführung.

Im Ost-West-Zusammenhang ist auch ein Fund bislang unbekannter Akten der Historiker interessant: Für den Fall einer Wiedervereinigung, mit der man im Westen ab Mitte der 50er Jahre zeitnah rechnete, wurde unter Leitung des BMI ein Ausschuss eingesetzt, der eine Verfassung für ein geeintes Deutschland ausarbeiten sollte. „In den Konzeptionen, in denen immer nur vom ,Deutschen Reich’ gesprochen wird, zeigt sich das konservative Denken der Protagonisten: es wird ein starker Staat gefordert, in dem der Bundestag Reichstag heißt und nur drei Mal im Jahr Plenumsphasen haben soll. Entscheidungen sollten eher in Arbeitskreise und Plebiszite verlegt werden, auch eine Entmachtung des Bundesverfassungsgerichts war angestrebt“, so Bösch. Die Lernprozesse waren aber wohl doch nachhaltiger: „Die Konzepte blieben geheim in der Schublade, da auch sie bald nicht mehr zeitgemäß erschienen.“

Frank Bösch/Andreas Wirsching (Hg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Wallstein-Verlag 2018, 34,90 Euro

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