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Verschiedene Erkältungsmittel liegen auf einem Tisch.

© dpa/Susann Prautsch

Suche nach Gründen für die Erkältungswelle: Kann man sich auch zu selten infizieren? 

Aktuell grassieren weit mehr Atemwegsviren als sonst im Winter. Immer wieder ist nun die Rede von der „Immunschuld“. Was es damit auf sich hat. Ein Gastbeitrag.

Die Kinderkliniken in Deutschland sind derzeit so überlastet, dass die Lage für Kinder, Eltern, Ärzte und Pfleger stellenweise zum Alptraum gerät. Aber warum ist das eigentlich so? 

Ein wichtiger Grund dafür ist das respiratorische Synzytial-Virus (RSV). Jahrelang erreichte die jährliche RSV-Welle ihren Höhepunkt im Januar. Im Winter 2020/2021, sehr wahrscheinlich in Folge der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, fiel sie allerdings komplett aus. Seither hat sich der typische jahreszeitliche Rhythmus nicht ganz wiederhergestellt.

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Im Oktober/November 2021 kam es zu einem ungewöhnlich frühen Anstieg, in diesem Jahr fiel der vorläufige Höhepunkt der Winterwelle auf den Dezember, diesmal aber zusammen mit sehr vielen Grippefällen, was die ohnehin schon überstrapazierte Kindermedizin fast zum Kollaps brachte. Auch in anderen Ländern konnte man Ähnliches beobachten, etwa in Dänemark, Schweden oder in Australien – auf der Südhalbkugel natürlich mit sechs Monaten Abstand. Auch die Grippewelle kam dort ungewöhnlich früh.

Woher kommt diese RSV-Wucht? Weithin kursierte in den letzten Wochen der Begriff „Immunschuld“: Kinder seien wegen der viruseindämmenden Maßnahmen seit Anfang 2020 zu wenig mit Krankheitserregern in Kontakt gekommen, ihr Immunsystem habe nicht „trainieren“ können.

Der Begriff einer „Immunschuld“ ist allerdings erst im letzten Jahr erfunden worden. Echte Belege dafür gibt es bislang nicht, vielmehr dient der Begriff jenen als Kampfbegriff, die in den Maßnahmen zur Eindämmung einen Hauptgrund allen Übels in der Pandemie sehen.

Die allgemeine Hygiene wurde verbessert - zu gut?

Dennoch ist das Thema interessant, denn es knüpft an eine große Frage in der Immunologie an: Können wir auch zu wenig Kontakt mit Mikroben haben? Erst die Impfungen ab den 1950ern machten zehntausenden jährlichen Todesfällen in Deutschland durch Masern, Tuberkulose, Kinderlähmung, Diphterie und anderen Erregern ein Ende.

Auch die allgemeine Hygiene wurde weiterhin besser – zu gut? Die Beobachtung zunehmender Autoimmunkrankheiten führte 1989 zum Vorschlag der „Hygienehypothese“. Demnach sei die Umgebung in der Moderne sauberer, als uns guttut – Autoimmunkrankheiten könnten entstehen, weil das Immunsystem „zu wenig zu tun hat“ und sich gegen den eigenen Körper wendet.

Wirklich gut belegt wurde die These allerdings nie. Man versucht immerhin, Autoimmunkrankheiten mit parasitären Würmern zu lindern, bislang mit mäßigem Erfolg. Doch die Vorstellung, dass ein gewisses Maß an Hygiene „unnatürlich“ und schädlich sei, könnte auch die Popularität der Immunschuld-These erklären.

Ein Zoo von Durchfallviren im Abwasser

Wurde unser Immunsystem während der Pandemie wirklich träge und untrainiert? Wohl kaum, denn eingedämmt haben wir mit Masken, Home-Office und Ähnlichem nur die Atemwegsviren, also nur einen sehr kleinen Ausschnitt aller Mikroben in unserem Leben.

In einem Forschungsprojekt haben wir im März 2021 beispielsweise den ganzen Zoo der Durchfallviren im Berliner Abwasser nachgewiesen. Auch alle Bakterien, von denen wir kiloweise in unserem Darm, auf unserer Haut und den Schleimhäuten in Nase und Hals rumtragen sowie Pilzsporen blieben uns erhalten.

Es trifft Kinder in den ersten Lebensmonaten – das spricht gegen den Nachholeffekt als Ursache der vielen Kleinkinder mit RSV im Krankenhaus.

Emanuel Wyler, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin inBerlin

Warum aber ist die RSV-Welle dann so heftig? Gibt es einen „Nachholeffekt“, weil viele junge Kinder zum ersten Mal mit diesem Virus Kontakt haben? Dagegen sprechen unter anderem dänische Krankenhausdaten. Diese zeigen, dass dort derzeit kaum ein- bis zweijährigen Kinder mit schweren RSV-Verläufen eingeliefert werden.

Daten aus Dänemark sprechen gegen Nachholeffet

Obwohl die RSV-Welle im Vorjahr auch in Dänemark ausfiel und diese Kinder also noch keinen Kontakt mit dem Virus hatten, erleiden sie jetzt nicht die schweren Verläufe wie die Säuglinge. Stattdessen trifft es wie verstärkt Kinder in den ersten Lebensmonaten – das spricht gegen den Nachholeffekt als Ursache der vielen Kleinkinder mit RSV im Krankenhaus.

Klar ist, dass wir uns im Laufe des Lebens immer wieder mit den ungefähr ein Dutzend Atemwegs-Virusarten anstecken, und dabei das für dieses Virus passende Immungedächtnis auffrischen. Das geschieht unabhängig von der Immunität gegen die zehn- hunderttausenden anderen Mikroben in unserem Leben.

Das könnte also schlicht bedeuten: Unser Immunsystem der Bevölkerung ist keineswegs untrainiert. Doch ohne die RSV-Immunitäts-Auffrischung 2020/2021 konnte das Virus sich danach leichter in der gesamten Bevölkerung verbreiten. Letztendlich gab es so auch mehr Infektionen und schwere Erkrankungen bei ganz kleinen Kindern. Man kann also durchaus von einer „Immunitätslücke“ bei spezifischen Krankheitserregern sprechen, aber nicht von einer generellen „Immunschuld“.

Hat es also vielleicht auch ein Gutes, dass wir uns permanent infizieren? So einfach ist es leider nicht: Nicht nur Sars-Cov-2, viele Viren können im Einzelfall langanhaltende Gesundheitsprobleme verursachen. RSV-Infektionen etwa tragen zu Asthma bei Kindern bei. Gibt es dann vielleicht „optimale Balance“?

Diese Frage muss noch erforscht werden. Bislang wissen wir nur sehr grob, wer sich wie oft mit welchen Atemwegsviren infiziert. Entsprechende Studie müssten zwei Fragen klären: Geht es den Menschen, die sich häufig infizieren, im Schnitt besser oder schlechter als denen mit seltenen Infekten? Und was bedeutet die Häufigkeit von Infekten für die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt? Vielleicht ist es tatsächlich vorteilhaft, wenn sich ansonsten gesunde Menschen „in die Bresche werfen“, und mit regelmäßigen Ansteckungen die Ausbreitung von Viren insgesamt verlangsamen?

In jedem Fall hat die Zeit der Pandemie, in der wir von Erkältungsviren weitgehend verschont blieben, eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Die weitere Forschung könnte klären, welche Menge zirkulierenden Viren eigentlich optimal ist.

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