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Orca-Mutter und ihr Neugeborenes.

© mauritius images/Minden Pictures/Hiroya Minakuchi

Der „Großmutter-Effekt“: Orca-Mütter schützen ihre Söhne – aber nicht Töchter

Auch Schwertwal-Weibchen kommen in die Menopause. Trotz ihres hohen Alters weichen sie aber ihren Söhnen nicht von der Seite, sondern beschützen sie vor Kämpfen.

Von Alice Lanzke, dpa

Orca-Söhne leben noch lange im Hotel Mama: Selbst im hohen Alter beschützen Schwertwal-Weibchen ihre männlichen Nachkommen davor, von anderen Orcas verletzt zu werden. Das berichten Verhaltensbiologen aus Großbritannien und den USA im Fachblatt „Current Biology“. Töchter profitieren indes nicht vom Beschützerinstinkt ihrer postmenopausalen Mütter.

Nur von sechs Arten – dem Menschen und fünf Zahnwalen –ist bekannt, dass sie in die Wechseljahre kommen. Zu den Walarten gehören Orcas: Weibliche Schwertwale, die in freier Wildbahn bis zu 90 Jahre alt werden können, leben im Durchschnitt noch 22 Jahre nach der Menopause. Warum das so ist, war lange ein Rätsel.

Einen möglichen Grund ergab 2019 die Studie eines internationalen Forschungsteams, das im Fachblatt PNAS von einem „Großmutter-Effekt“ berichtete: In Orca-Gruppen mit einer Leitkuh jenseits der Menopause hatten Kälber demnach höhere Überlebenschancen.

Das Verhalten von Schwertwalen hat in den vergangenen Wochen schon in den Schlagzeilen gemacht: Sie griffen Yachten vor der Küste Portugals an.
Das Verhalten von Schwertwalen hat in den vergangenen Wochen schon in den Schlagzeilen gemacht: Sie griffen Yachten vor der Küste Portugals an.

© REUTERS/Matt Mills Mcknight

Einen weiteren Vorteil – zumindest für männliche Orca-Nachkommen – beobachtete nun ein Team um die Verhaltensbiologin Charli Grimes von der Universität Exeter. Das Forschungsteam studierte Schwertwale, die vor der Pazifikküste Nordamerikas leben. Die Tiere sind in matriarchalischen Sozialverbänden organisiert, die aus einer Mutter, ihren Nachkommen und den Nachkommen ihrer Töchter bestehen. Obwohl sich männliche Orcas mit Artgenossinnen aus anderen Gruppen vermehren, bleiben sowohl Männchen als auch Weibchen lebenslang in der Gruppe ihrer Mütter.

Die Forschenden analysierten Bildaufnahmen der jährlichen Populationserfassung durch das US-amerikanische Zentrum für Wahlforschung. Konkret suchten sie nach Anzeichen von Narben auf der Haut der einzelnen kategorisierten Wale. Da Orcas keine natürlichen Fressfeinde haben, stammen insbesondere Spuren von Zähnen, die die Haut der Tiere durchbohrt haben, höchstwahrscheinlich von anderen Orcas. „Zahnspuren sind Hinweise für körperliche soziale Interaktionen bei Schwertwalen und entstehen in der Regel durch Kämpfe oder grobes Spiel“, so Erstautorin Grimes.

Die Auswertung der Bilder ergab, dass jene Orca-Männchen, deren Mütter sich also nicht mehr fortpflanzten, 35 Prozent weniger Zahnspuren aufwiesen als mutterlose Artgenossen oder solche mit Müttern, die die Wechseljahre noch nicht erreicht hatten. Die Biologen schließen daraus, dass ältere Orca-Mütter ihre Söhne davor schützen, von anderen Orcas verletzt zu werden. „Diese postreproduktiven Mütter unterstützen gezielt ihre Söhne“, sagt Studienleiter Darren Croft: Vermutlich hätten Mütter nach dem Ende ihrer fruchtbaren Phase mehr Zeit und Energie, um ihre männlichen Nachkommen zu schützen.

Sie haben Erfahrung mit Individuen in anderen Gruppen und kennen deren Verhalten und könnten ihre Söhne daher von potenziell gefährlichen Interaktionen abhalten.

 Darren Croft, Studienleiter

Wie sie das genau tun, kann das Forschungsteam nicht mit Sicherheit sagen: Da die Weibchen nach der Menopause selbst die geringste Häufigkeit von Zahnabdrücken in der gesamten sozialen Gruppe aufwiesen, scheinen sie nicht körperlich in Konflikte einzugreifen, so die Studienautoren. Spielten ältere Orca-Weibchen eine ähnliche Rolle wie ältere Frauen in menschlichen Gesellschaften, könnten sie als Vermittlerinnen fungieren und Konflikte von vornherein verhindern, heißt es.

Um dies zu überprüfen, soll das Verhalten der Wale mithilfe von Drohnen aus der Luft beobachtet werden. Möglicherweise nutzten ältere Weibchen ihre Erfahrung, um ihren Söhnen zu helfen, sich bei Begegnungen mit anderen Walen zurechtzufinden, sagt Croft: „Sie haben Erfahrung mit Individuen in anderen Gruppen und kennen deren Verhalten und könnten ihre Söhne daher von potenziell gefährlichen Interaktionen abhalten.“

Unklar ist, warum ältere Orca-Mütter nicht auch ihre Töchter schützen. „Männchen können sich mit mehreren Weibchen fortpflanzen, sodass sie mehr Möglichkeiten haben, die Gene ihrer Mutter weiterzugeben“, mutmaßt Grimes. Zudem paarten sich die Männchen mit Weibchen außerhalb ihrer sozialen Einheit, sodass die Last der Aufzucht des Kalbes auf eine andere Gruppe falle.

Insgesamt weise das Verhalten der Schwertwal-Mütter faszinierende Ähnlichkeiten mit Menschen auf, bilanziert Biologe Croft: „Genau wie beim Menschen scheinen ältere Walweibchen eine wichtige Rolle in ihrer Gesellschaft zu spielen. Sie setzen ihr Wissen und ihre Erfahrung ein, um unter anderem Nahrung zu finden und Konflikte zu lösen.“

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