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 IMAGO Nature: Unsere Erde, Energiequellen, Erdgas Industrieanlagen an der Shell Rheinland Raffinerie am Standort in Godorf bzw. Wesseling. Wesseling, 09.02.2022 *** Industrial facilities at the Shell Rheinland refinery at the site in Godorf or Wesseling Wesseling, 09 02 2022 Foto:xC.xHardtx/xFuturexImage

© imago/Future Image / IMAGO/Christoph Hardt

„Wir wollen alle über den Winter bringen“: „Aber ohne Gas wird es schwierig“

Kai Beckmann, Präsident des Chemieverbandes, über die Energiekrise, die Gefahr von Verlagerungen und die Erwartungen an die Politik.

| Update:

Herr Beckmann, die Chemieindustrie ist einer der größten Energieverbraucher. Wie eng wird es für die Betriebe?
Die Produktion ist seit Februar um zwölf Prozent zurückgegangen. Einen solchen Einbruch haben wir zuletzt 2008 erlebt. Jetzt ist es mindestens so dramatisch wie damals. Die Geschäftserwartungen sind auf ein Allzeit-Tief abgestürzt.

Wie kommt Merck mit der Situation klar?
In den 354 Jahren des Bestehens hat Merck viele Krisen überstanden, das wird dieses Mal auch so sein. Wir können auf andere Energieträger gehen, aber zu deutlich höheren Kosten. In unserer Branche wächst die Unsicherheit, ob die Produktion bestimmter Materialen in Deutschland überhaupt wirtschaftlich sinnvoll ist. Einmal verlagert, kommt Produktion dann vermutlich auch in Zukunft nicht mehr zurück, beispielsweise die Ammoniakherstellung.

Erleben wir einen neuen Trend in Richtung USA, weil dort die Energiekosten nur etwa ein Zehntel des deutschen Niveaus ausmachen?
Mindestens so wichtig wie die Kosten ist die Notwendigkeit, in der Nähe des Kunden zu sein. Unsere Abnehmerindustrien prosperieren sehr stark in den USA. Ich komme gerade von der Grundsteinlegung einer neuen Intel-Fabrik in Ohio. Die wollen lokal unabhängig sein mit der Versorgung, deshalb sind wir dort.

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Was liefert Merck an Intel?
Wir sind einer der größten Lieferanten für Halbleitermaterialien, und auch einer der wenigen, die in Deutschland eine Produktion haben. Deshalb freuen wir uns auch sehr über die Intel-Entscheidung, in Magdeburg ein Werk zu bauen – trotz der hohen Energiepreise, die in der Halbleiterindustrie eine große Rolle spielen.

Das spricht nicht für weitere Chipfabriken in Deutschland.
Das bleibt abzuwarten. Was uns im Moment wirklich umtreibt: Wie können wir die Beschäftigung in dieser Krise halten? In früheren Krisen ist das gelungen, jetzt ist das die Maxime aller Beteiligten, der Sozialpartner ebenso wie der Politik.

Mit Hilfe der Kurzarbeitsregelung sollte das gelingen.
Das ist ein wichtiges Werkzeug. Wenn eine Produktion aber dauerhaft nicht mehr wettbewerbsfähig ist, dann hilft auch die Kurzarbeit nicht.

Und alle Firmen werden keinen Platz finden unter dem Rettungsschirm der Bundesregierung.
Wir haben viele Mittelständler und eine große Vielfalt in der chemischen Industrie. Diese Breite ist eine echte Stärke der Branche, und die sollten wir zu retten versuchen. Es wird nicht jeder schaffen, das Beispiel der Ammoniak-Herstellung habe ich genannt. Aber es muss doch unser Ziel sein, alle durch den kommenden Winter zu bringen. Wenn wir Firmen verlieren, dann verlieren wir auch Resilienz in der Lieferkette.

Kai Beckmann gehört zur Geschäftsleitung des Pharmakonzerns Merck und leitet im Ehrenamt den Arbeitgeberverband der Chemieindustrie.

© imago/Jan Huebner / imago sportfotodienst

Was würde kurzfristig helfen?
Erstens Versorgungsicherheit. Wenn das Gas nicht ausreicht, wird es schwierig. Zweitens die Kosten. Das Problem müssen wir an der Quelle angehen, also stabilisierend eingreifen bei den Strom- und Gaspreisen. Und drittens: Zusätzliche Belastungen für die Unternehmen vermeiden. Zum Beispiel das Nachweisgesetz zu Arbeitsverhältnissen. Das ist an Absurdität kaum zu überbieten, plötzlich sollen die Betriebe wieder Papier ausdrucken. Das sind auf den ersten Blick Kleinigkeiten, die aber in der Krise noch zusätzliche Bürokratie bedeuten.

Bei der Sitzung der konzertierten Aktion erwarten Sie also einen Gas- und Strompreisdeckel?
Ein Deckel würde jedenfalls private Verbraucher und Betriebe schützen.

Gewerkschafter warnen vor Deindustrialisierung und machen damit Druck auf die Bundesregierung.
Industriearbeitsplätze sind der Schlüssel zum Erfolg der deutschen Volkswirtschaft – in dieser Einschätzung sind wir uns einig mit der Gewerkschaft. Deindustrialisierung wäre mir etwas zu schlicht und zu grob. Aber wir brauchen Planungssicherheit durch einen Schutz gegen die Kostenlawine bei Strom und Gas. Grundsätzlich geht es nicht um „entweder oder“, sondern die Regierung muss verschiedene Interessen berücksichtigen.

Die geplante Freistellung von Steuern und Abgaben der „Inflationsprämie“ von bis zu 3000 Euro bedient die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Wir haben im Frühjahr mit der Brückenvereinbarung für die chemische Industrie gezeigt, dass man sich mit einer Einmalzahlung Zeit kaufen kann, bis wieder mehr Klarheit da ist. Kanzler Scholz hat sich auch explizit darauf bezogen, als er vor einigen Monaten im Bundestag die konzertierte Aktion angekündigt hat. Wenn wir genau wissen, wie die Regelung vom Gesetzgeber ausgestaltet wird, dann können wir darüber diskutieren. Mehr Netto vom Brutto ist immer gut – vor allem in der heutigen Situation.

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE, will neben einer deutlichen Tariferhöhung auch ein befristetes tarifliches Entlastungsentgelt in den kommenden Tarifverhandlungen durchsetzen.

© Monika Skolimowska/dpa

Dazu hätte die IG BCE gerne eine Tariferhöhung um Festbeträge und nicht um Prozente, davon profitieren die unteren Einkommen, die besonders unter der Inflationsrate leiden.
Die Forderung ist nicht völlig neu. Vor den Tarifverhandlungen möchte ich solche Vorstellungen nicht kommentieren, das hilft nicht bei der Kompromissfindung. Klar ist aber: Wir müssen das Problem da anpacken, wo es am stärksten auftritt. Die Gießkanne bei manchen staatlichen Entlastungsmaßnahmen war wenig sinnvoll.

Von Monat zu Monat werden wir steigende Inflationsraten sehen. Welchen Einfluss werden die Horrorzahlen auf die Tarifverhandlungen haben?
Wir verhandeln ab Oktober und wollen den Unternehmen und unseren Beschäftigten zügig Klarheit und Sicherheit geben. Aber die Verhandlungen werden kein Selbstläufer.  Wenn es der Regierung gelingt, an den Kostensituation etwas zu verändern, dann sollte das die Inflationsrate nach unten drücken.

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Die konzertierte Aktion am Donnerstag muss also zu konkreten Aktionen führen.
Die Krise wartet nicht auf uns oder legt eine Pause ein, bis wir uns geeinigt haben. 

Stellt sich Merck auf Kurzarbeit ein im Winter?
Seit 33 Jahren bin ich im Unternehmen, Kurzarbeit haben wir in der Zeit nicht gehabt. Auch nicht in der Pandemie. Ich gehe davon aus, dass das auch im kommenden Winter so bleibt.

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