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Ein ukrainischer Soldat steht vor einem zerstörten Gebäude in der Stadt Irpin nahe Kiew.

© picture alliance/dpa/AP

Waffen mit mehr Reichweite, mehr Präzision: Die nächste Phase des Krieges und was sie für die Ukrainer bedeutet

Mit hochentwickelten westlichen Waffen wollen die Ukrainer die Überlegenheit der Russen brechen. Kann das gelingen? Eine Analyse.

Sind das die ersten Auswirkungen der westlichen Waffenlieferungen? In den vergangenen drei Tagen haben russische Verbände keine Geländegewinne mehr erzielt, schreibt der britische Militärgeheimdienst in seiner täglichen Einschätzung am Donnerstag.

Das würde zur aktuellen ukrainischen Strategie passen: Mit den aus den USA gelieferten Himars-Raketenwerfern beschießen Kiews Truppen Munitionsdepots und Kommandoposten weit hinter der Frontlinie. Dutzende Ziele sind zuletzt zerstört worden, sogar in der lange umkämpften und inzwischen von Russland kontrollierten Stadt Mariupol.

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Das Magazin „Foreign Policy“ berichtet unter Berufung auf ukrainische Militärkreise, dass es das Ziel sei, jedes Munitionsdepot und jeden russischen Kommandostand auf ukrainischem Boden zu zerstören.

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Was ambitioniert klingt, ist durchaus möglich: Die USA haben der Ukraine mehrere tausend Hochpräzisionsraketen für die Himars zur Verfügung gestellt (ein Drittel des eigenen Arsenals), auch die Koordinaten der Ziele scheinen der Führung in Kiew bekannt.

Hinzu kommt, dass die Himars bisher ungestört und sehr mobil operieren können. Russland hat bisher kein Mittel gefunden, die meist in der Nacht stattfindenden Angriffe abzuwehren. Die Flugabwehr ist gegen die schnell und vergleichsweise flach fliegenden Geschosse, die extrem genau treffen, machtlos.

Aufgrund ihrer Reichweite von bis zu 80 Kilometern sind die Himars für die allermeisten russischen Waffen, die rund die Hälfte der Reichweite haben, nicht zu treffen. Drohnen, die das schaffen könnten, haben die Russen noch nicht im Dienst.

Vorteil bei Präzision und Reichweite

Unter russischen Militärexperten und Beobachtern herrscht deshalb aktuell Entsetzen, wie der US-Think-Tank „Institue for the Study of War“ berichtet. Kein Wunder, denn die russische Militärführung hatte eigentlich genug Zeit, um sich auf die neue Waffe einzustellen.

Sie wusste seit Wochen, dass die Himars an der Front ankommen würden. Dennoch ließen sie ihre Depots an den Orten, die die Ukrainer kannten. Auch die Kommandoposten wurden offenbar nicht besser geschützt und versteckt.

US-Soldaten zeigen das Himars-System in Saudi-Arabien.
US-Soldaten zeigen das Himars-System in Saudi-Arabien.

© Fayez Nureldine / AFP

Mit dem Einsatz der Himars könnte sich auch eine neue Phase des Krieges andeuten. In der zwingt die Ukraine zumindest eine Zeit lang den Russen ihre Kriegsführung auf und spielt die Vorteile ihrer Armee aus.

Entsprechend groß ist die Euphorie bei den Militärverantwortlichen in Kiew und bei manchem Beobachter. Inzwischen ist Himars – etwas wurde „gehimart“ – als Verb in den sozialen Netzwerken aufgetaucht und bedeutet so viel wie etwas sehr genau treffen.

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Den Kampf um Kiew gewannen die Ukrainer im März unter anderem, in dem sie die russischen Nachschublinien unterbrachen und aus dem Hinterhalt Einheiten angriffen. Die russischen Verluste waren extrem hoch, die Stellungen oftmals nicht mehr zu halten.

Eine ähnliche Strategie erlauben die Himars jetzt. Nur dass die Ukrainer nicht mehr mit Soldaten hinter die feindlichen Linien dringen müssen, sondern die Raketen verwenden.

Wie die „New York Times“ berichtet, wird Washington demnächst weitere Himars in die Ukraine schicken. US-Experten schätzen der „NYT“ zufolge, dass 60 bis 100 der Geräte gebraucht würden, um die russischen Truppen endgültig zu stoppen. Vier britische Mehrfachraketenwerfer sind außerdem schon vor Ort, drei sollen zudem aus Deutschland kommen.

Entgegen russischer Behauptungen wurde bisher kein Himars-System nachweislich zerstört. 100 ukrainische Soldaten sind inzwischen an den Systemen ausgebildet.

Kiew will Raketen mit mehreren hundert Kilometern Reichweite

Die Regierung in Kiew versucht zudem, aus den USA noch weiter reichende Raketen für die Himars zu bekommen. Sie können Ziele in bis zu 400 Kilometern Entfernung treffen. Damit könnten die Ukrainer auch gegen russische Schiffe im Schwarzen Meer vorgehen – und Ziele in Russland selbst. Das wiederum wollen die USA bisher vermeiden. Die Ukraine soll aber zugesagt haben, mit US-Waffen keine Ziele auf russischem Boden anzugreifen.

Klar ist: Schon jetzt hat sich mit den Himars die Lage auf dem Schlachtfeld verändert. Die Ukraine kann den Kampf zunehmend aus der Entfernung führen.

Wo die Russen im Donbass die Ukrainer in verlustreiche Artilleriekämpfe auf vergleichsweise kurze Distanz zwangen, die Putins Truppen allein aufgrund der deutlichen materiellen Überlegenheit – Moskau verfügt über mindestens dreimal mehr Artillerie und Munition als die Ukraine – gewannen, könnten die Ukrainer demnächst einen entscheidenden Vorteil bei Reichweite und Präzision haben.

Denn auch die ukrainische Artillerie wird zunehmend in die Lage versetzt, auf Abstand zu agieren. Die westlichen Systeme (zum Beispiel die M777 aus den USA oder die deutsche Panzerhaubitze 2000) schießen weiter und präziser als die russischen. Weit über 100 Artillerie-Systeme hat die Ukraine bereits im Dienst.

Die Unbekannten in der ukrainischen Rechnung

In dieser Woche haben die USA außerdem die Lieferung von 1000 Excalibur Hochpräzisionsgeschossen für die Artillerie angekündigt. Sie haben eine Reichweite von knapp 60 Kilometern (die Kosten pro Geschoss liegen bei rund 70.000 Dollar). Sie treffen bis auf wenige Meter genau und wurden unter anderem entwickelt, um zivile Opfer durch ungenaue Munition zu vermeiden. Ein Excalibur ersetzt laut dem Hersteller zehn bis 50 konventionelle Geschosse.

Das deutet an, wie sich der Krieg weiter entwickeln könnte: Während Russland weiter auf munitionsintensives Flächenbombardement durch seine Artillerie setzt, die weit weniger genau ist als die westlichen Systeme, verlagern sich die ukrainischen Truppen auf eine Art Scharfschützenarbeit, die mit weniger Aufwand an Material größere Wirkung erzielt. Technische Überlegenheit soll die Überlegenheit an Masse brechen.

Die Lieferung der Himars zeigt dem Westen zudem, welchen Effekt ihre Systeme haben können und wie effektiv sie von den Ukrainern eingesetzt werden.

Das liefert den Ukrainern, die sich unter anderem auch Flugabwehrsysteme und Kampfpanzer aus den Nato-Staaten wünschen, gute Argumente. Allein westliche Flugabwehr würde wohl Hunderte Tote unter ukrainischen Zivilisten verhindern, die jetzt noch Opfer des russischen Raketenterrors werden.

Die zentrale Frage aber bleibt am Ende: Reichen Kiew die neuen Waffen für eine großangelegte Gegenoffensive? Die Antwort hängt von mehreren Faktoren ab und ist aktuell nicht seriös zu geben.

Denn für Offensivoperationen sind die Himars nicht gedacht, sie wären hier eher ein unterstützendes System. Hier würde die Artillerie zum Einsatz kommen. Zudem brauchen die Ukrainer genug Infanterie, Panzer und eine Luftabwehr gegen russische Kampfflugzeuge, um vorzurücken. Über all das verfügt Kiew, in welchem Umfang ist allerdings unklar nach der verlustreichen Schlacht im Donbass.

Ein Ziel hat Kiew jetzt schon erreicht: Dass Russland noch große Gebiete in der Ukraine erobern kann, ist sehr viel unwahrscheinlicher geworden.

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