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Washington 1993, als eine Lösung greifbar schien: Der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin und der PLO-Vorsitzende Yasser Arafat nach der Unterzeichnung des israelisch-palästinensischen Friedensabkommens. In der Mitte: US-Präsident Bill Clinton.

© picture alliance / REUTERS/Gary Hershorn

Naher Osten: „Wir bräuchten auf allen Seiten Handelnde, die tatsächlich eine Lösung finden wollen“

Ein Gespräch mit der Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer und dem Konfliktforscher Jannis Julien Grimm, Leiter der Forschungsgruppe „Radical Spaces“ an der Freien Universität Berlin

Von Pepe Egger

Frau Krämer, Herr Grimm, bevor wir über das Risiko einer Ausweitung des Gazakrieges sprechen, lassen Sie uns zum Anfang der jüngsten Gewalteskalation in Nahost zurückgehen, zum Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Ist es schon möglich, die ganze Bedeutung dieses Tages zu verstehen und einzuordnen?

Gudrun Krämer: Historikerinnen und Historiker werden einmal beurteilen müssen, ob dieser 7. Oktober dem 11. September 2001 mit den Anschlägen in den USA an die Seite gestellt werden soll: ob es sich nicht einfach um eine Eskalation eines fortdauernden Konflikts handelt, sondern um eine Zäsur.

Ich bin da skeptisch, aber der 7. Oktober hat auf jeden Fall aufseiten aller Beteiligter tiefe Wunden gerissen, er hat unglaublich viel Leid und Leidenschaften erzeugt, und er ist ein Einschnitt. Ob und inwieweit er die Grunddynamik des Konflikts verändert hat, das kann man meines Erachtens jetzt noch nicht sagen.

Gudrun Krämer ist Islamwissenschaftlerin und Historikerin. Sie war Leiterin des Instituts für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Gudrun Krämer ist Islamwissenschaftlerin und Historikerin. Sie war Leiterin des Instituts für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

© Freie Universität Berlin/Anne-Sophie Schmidt

Jannis Julien Grimm: In der Konfliktforschung gibt es den Begriff der „critical juncture“: ein Bruch, der wie eine Weichenstellung funktioniert. Wir sprechen auch von transformativen Ereignissen. Das sind Ereignisse, die unsere sedimentierte Vorstellung der Wirklichkeit infrage stellen, die Bilder, die wir uns von einer Situation oder einem Konflikt gemacht haben.

Das wirkt ex­trem emotionalisierend und destabilisierend: Vorher hatte man sich auf ein, wenn auch fragiles, Gleichgewicht eingestellt, das auf einmal ins Wanken gerät. In Israel dachte man, dass die Hamas „contained“ und kontrolliert werden könne, umgekehrt gab es in den palästinensischen Gebieten seit dem Oslo-Abkommen im Jahr 1993 die Annahme, dass man auf dem Verhandlungsweg zu einem eigenen Staat kommen werde – auch wenn angesichts des voranschreitenden Siedlungsbaus im Westjordanland kaum noch jemand an dieses Versprechen glaubte.

Das waren Paradigmen, von denen die meisten wussten, dass sie eigentlich nicht zutrafen, die aber gleichzeitig kaum noch hinterfragt wurden, weil es keine Alternativen gab. Ein Schockereignis wie der 7. Oktober zerstört ein solches Gleichgewicht. Zugleich schafft es paradoxerweise Räume, um über neue Wege nachzudenken, auch über radikal andere Lösungen.

Jannis Julien Grimm ist Leiter der Forschungsgruppe „Radical Politics“ an der Freien Universität Berlin und Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb).
Jannis Julien Grimm ist Leiter der Forschungsgruppe „Radical Politics“ an der Freien Universität Berlin und Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb).

© M.Bender

Wenn sich ein derart schlimmer Angriff und dann ein Krieg dieser Dimension ereignet, wäre es wichtig, differenziert, nüchtern und konsensorientiert darüber zu diskutieren. Aber es passiert zumeist das genaue Gegenteil: Die Debatte polarisiert die Gesellschaft, zum Beispiel auch an den Universitäten. Wie erleben Sie die Situation?

Gudrun Krämer: Als eine Radikalisierung der unterschiedlichen Blickpunkte, aus denen das Geschehen wahrgenommen wird. Die einen verorten den 7. Oktober und seine Folgen in einer Geschichte des Kolonialismus und des legitimen Widerstandes dagegen, die anderen als Teil einer Geschichte des Antisemitismus und Judenhasses, die weit über Israel hinausgeht.

Gerade in Deutschland mit seiner Geschichte ist die Polarisierung besonders krass. Wenn man vergleicht, wie in Frankreich, Italien oder Spanien diskutiert wird, dann wird deutlich, welch eine Radikalisierung von Bewertungen und Narrativen wir gerade erleben. Die wird so schnell nicht wieder einzufangen sein.

Jannis Julien Grimm: Mir scheint, dass wir uns als Wissenschaftler hier sehr viel mehr noch als bei anderen Konflikten, etwa dem Ukrainekrieg, in einem normativen Spannungsfeld bewegen. Man wird innerhalb einer Debatte verortet, die wenig damit zu tun hat nachzuvollziehen, warum unterschiedliche Konfliktparteien so handeln, wie sie es tun. Diese Sicht ist vor allem darauf ausgelegt, die eine oder die andere Seite zu verurteilen.

Selbst wer sich nicht positioniert oder wer nicht öffentlich Stellung bezieht, dessen Schweigen wird ebenfalls als Äußerung in die eine oder andere Richtung gewertet, gewissermaßen als schweigende Zustimmung. Dabei ist Schweigen eigentlich oft Ausdruck einer differenzierteren Sichtweise auf den Konflikt. Empathie ist zudem kein Nullsummenspiel: Wenn in einem Gewaltkonflikt mehrere Gemeinschaften gleichzeitig leiden und trauern, dann kann Empathie und Solidarität auch mehreren Gemeinschaften gleichzeitig gelten.

Gibt es für Sie als Wissenschaftlerin und Wissenschaftler eine Spannung zwischen dem Druck, sich zu äußern, und Ihrem Berufsethos, unabhängig und nur der Wahrheit verpflichtet zu bleiben?

Jannis Julien Grimm: Als Konfliktforscher verliere ich meine Integrität, wenn ich die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen nicht klar benenne – gleich, wer sie begeht. Man kann auch nicht auf der einen Seite die Tötung von Zivilisten und Zivilistinnen anprangern und sie auf der anderen rechtfertigen, wie das etwa geschieht, wenn die israelische Zivilbevölkerung zum legitimen Ziel innerhalb eines asymmetrischen Konflikts erklärt wird, oder wenn die Opfer in der palästinensischen Bevölkerung als Kollateralschäden dehumanisiert werden, die zwar bedauerlich, aber im Rahmen des Kampfes gegen die Hamas gerechtfertigt sind.

Gerade in Deutschland mit seiner Geschichte ist die Polarisierung besonders krass.

Gudrun Krämer, Islamwissenschaftlerin und Historikerin

Eine klare Trennung von normativen und analytischen Bewertungen ist auch nach dem Raketenangriff des Irans auf Israel wichtig: Das Völkerrecht kennt kein Recht auf Vergeltung, sondern nur auf Selbstverteidigung gegen eine unmittelbare Gefahr. Nun kann man argumentieren, der Raketenangriff wurde durch den israelischen Luftschlag auf Irans diplomatische Mission in Damaskus provoziert. Das ist aber ein analytisches Argument, kein normatives. Der iranische Angriff bleibt dennoch illegal.

Gudrun Krämer: Der Konflikt zwischen dem Versuch, möglichst kühl auf das Geschehen zu blicken, und der Erwartung, sich eindeutig auf eine Seite zu stellen, ist nicht neu, aber jetzt wieder sehr stark zu spüren. Nun ist klar: Absolute Objektivität oder Neutralität gibt es nicht. Aber ich sehe es als meine Aufgabe als Wissenschaftlerin, evidenzbasiert zu sprechen, so weit wie möglich zurückzutreten und die Dinge in aller Fairness, aber gewissermaßen mit dem kalten Auge der Wissenschaft, zu analysieren.

Das ist leichter gesagt als getan, weil man auch als Wissenschaftlerin Sympathien hat, die nicht immer ganz gleich verteilt sind. Ich habe Kollegen und Freunde auf beiden Seiten, auch wenn ich als erstes sagen würde: von „zwei Seiten“ zu sprechen, ist schon eine unzulässige Vereinfachung.

Wie kann es weitergehen? Gibt es überhaupt Hoffnung auf eine friedliche Lösung in der derzeitigen Lage? Paradoxerweise wird jetzt ja wieder mehr über die Zweistaatenlösung diskutiert als vor dem 7. Oktober.

Gudrun Krämer: Das Problem besteht darin, dass wir auf allen Seiten Handelnde bräuchten, die tatsächlich eine Regelung finden wollen, die sowohl Palästinensern als auch Israelis gerecht wird und allen das zugesteht, was man für sich selber beansprucht: ein Leben in Frieden und Würde, in Freiheit und Sicherheit. Diese Akteure sind im Moment auf beiden Seiten schwer zu erkennen.

Jannis Julien Grimm: Ich würde dem zustimmen. Und man muss es so deutlich sagen: Die amtierende israelische Regierung hat erklärtermaßen keinerlei Interesse an einer Zweistaatenlösung, die palästinensische Autonomiebehörde hat kaum Rückhalt in der Bevölkerung und wird als verlängerter Arm der Besatzung wahrgenommen, und die Hamas ist offensichtlich kein Partner für Frieden.

Es ist darüber hinaus aber auch unwahrscheinlich, dass Israel die Sicherheitshoheit über den Gazastreifen nach diesem Krieg bald wieder aufgeben wird. Wenn man das weiterdenkt, dann bedeutet das eine längere Besatzung, ob direkt oder indirekt, und möglicherweise Vertreibung, sicher aber weitere Verdrängung und Entrechtung der Bevölkerung des Gazastreifens. Diese Entwicklung ist aus meiner Sicht nur vermeidbar, wenn sich andere Akteure, allen voran die USA, stark einbringen und Druck auf die israelische Regierung ausüben.

Wenn das nicht passiert, wird diese aktuelle Konfliktstruktur die Grundlage schaffen für eine Fortsetzung des Konfliktes in der Zukunft. Nicht nur das: Seit Monaten warnen wir, dass sich der Krieg im Gazastreifen ausweiten wird, auf den Libanon und darüber hinaus. Durch den israelischen Luftschlag auf das iranische Konsulat und den Gegenschlag mit Hunderten von Raketen von iranischem Staatsgebiet auf Israel ist dies nun geschehen.

Aus einem vormals verdeckten und größtenteils über Stellvertreter geführten Kräftemessen ist nun ein offener Krieg zwischen dem Iran und Israel geworden. Deutschland muss nun alles daransetzen, diesen einzudämmen. Die Frage, wer angefangen hat, hilft uns dabei nicht weiter. Sie liefert selten eine gute Anleitung dafür, wie ein außer Kon­trolle geratener Konflikt eingefroren werden kann, denn Konfliktparteien legen unterschiedliche Zeitrahmen bei dieser Bewertung an. Im Kern der Gewaltspirale stehen aber für alle Beteiligten ohne Zweifel der Krieg und die desaströse humanitäre Lage im Gazastreifen. Daher gilt es zuvorderst, diese zu adressieren. Um einen Flächenbrand zu verhindern, braucht es einen sofortigen Waffenstillstand.

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