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Solschenizyn Wladiwostok

© AFP

Revision der Geschichte: Unter Null

Bernhard Schulz wundert sich nicht über die russischen Schulbuchpläne.

Der Historiker, so hat es der Historiker Leopold von Ranke in seinem berühmten Satz formuliert, solle „zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“. Doch der Anspruch der Geschichtswissenschaft, ausschließlich objektive Tatsachen zu vermelden, ist längst ins Wanken geraten. In diesem Sinne ist Geschichte nicht einfach das Vergangene. Geschichte wird in jedem Moment neu strukturiert und den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart angepasst.

Dessen muss sich bewusst sein, wer die Vorstöße russischer Politiker zur Änderung der Schulbücher be- und verurteilt. Die ideologischen Helfershelfer Putins wollen in den Schulen vermittelt wissen, was der kruden Gedankenwelt des Präsidenten entspricht. Und ein oberster Herrscher, der die Auflösung der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, kann die historischen Tatsachen, die den moralischen Bankrott des Sowjetsystems bezeichnen, naturgemäß nicht länger stehen oder gar gelten lassen.

Diese Tatsachen betreffen vor allem die Epoche des Stalinismus. Sie bezeichnen den umfassenden Terror mit Arbeits- und Todeslagern, dem Millionen von Sowjetbürgern zum Opfer fielen. Daran hat Alexander Solschenizyn mit seinem epochalen, die Grundfesten des Sowjetsystems erschütternden Werk erinnert, erst mit dem Roman „Iwan Denissowitsch“ von 1962, dann ab 1963 mit den drei Bänden des „Archipel Gulag“. Die durften in der Sowjetunion nicht erscheinen. Und kursierten dennoch im Verborgenen. 2009 in den Lehrplan aufgenommen, soll der „Archipel“ daraus wieder getilgt werden.

Die Schülerinnen und Schüler in den Weiten Russlands sollen nichts Kritisches mehr über die Vergangenheit erfahren. Norilsk oder Magadan sind hübsche Städte im Norden des Landes und markieren mitnichten den „Kältepol des Grauens“, als den der bedeutende Schriftsteller und langjährige Gulag-Insasse Warlam Schalamow die arktische Lagerwelt bezeichnet hat. Denn „wie es eigentlich gewesen ist“, das interessiert Putin und seine Getreuen nicht. Sie wollen eine Geschichte verbreiten, die allein ihnen passt – und nützt.

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