zum Hauptinhalt
Anne Brocks-Huber in ihrer Wohnung in Potsdam.

© Andreas Klaer

Von Guido Berg: Es gibt unendliche viele Wahrheiten

Der sehr persönliche Leidens- und Erlösungsweg der Anne Brocks-Huber

Sie war damals selbst Medizinstudentin und es sollte nur eine Routine-Untersuchung sein. Plötzlich standen die Ärzte in Gruppen vor den Bildern ihrer Nieren und reagierten begeistert. „Einmalig“, hörte die junge Frau, „klassisch“ und das es nur ganz wenige Menschen gebe, bei denen es so schön zu sehen ist. Auf diese Weise überraschend wurde bei Anne Brocks-Huber eine angeborene Nieren-Erkrankung entdeckt, der Fachbegriff lautet Markschwammniere, die Nieren sind nicht richtig ausgebildet, für die 24-Jährige bedeutete es kurzum nur eines: Ich sitze auf einer Zeitbombe, „wenn mir mal irgendetwas auf die Nieren geht, bin ich tot“.

Die heutige Potsdamerin heiratet, macht ihr Examen, bekommt Kind Nummer zwei und drei. Als sie Anfang 30 ist, bricht bei ihr eine sehr aggressive Form von Rheuma aus. Die Medikamente jedoch, die Entzündungshemmer, gehen über die Nieren. Anne Brocks-Huber beschließt, ohne die Mittel auszukommen. Sie leidet an starken Schmerzen, einige Jahre hält sie durch, ringt aber darum, die Ursachen für ihre Erkrankung herauszufinden. Dieser Weg sollte sich für sie als der falsche herausstellen. Er führte ihre Seele in die Hölle. „Die Vergangenheit hilft nicht. Sie brauchen jetzt eine Lösung.“

Anne Brocks-Huber zündet sich eine Zigarette an. Vor ihr, auf einem kleinen runden Tisch, steht eine Tasse Tee. Nicht wegen der Nieren. Sondern weil Tee der Anne Brocks-Huber gut tut, die – nebenbei – auch Probleme mit ihren Nieren hat. „Ich bin nicht nur meine Nieren“, sagt sie. Sie will nicht darauf reduziert werden. Auf „Was macht denn dein Rheuma?“ sagt sie, sie habe nicht „mein Rheuma“. Sie geht sehr offen mit ihrer Geschichte um. Wenn ihr Porträt in der Zeitung steht, dann wird sie es mit Interesse lesen. Es wird eine neue Variante der Wahrheit sein. Aber, sagt sie, es gibt unendlich viele Wahrheiten.

Mitte 30 unterzieht sich Anne Brocks-Huber einer Hypnose, einer Reinkarnationstherapie. Man kann einen guten Handwerker kriegen, der seine Sache versteht, oder man kriegt einen schlechten. Bei den Hypnotiseuren ist das wohl ähnlich. Anne Brocks-Huber bekommt einen, der nicht merkt, dass sich bei ihr während der Trance, befreit von den Verdrängungen, „ein Problem restlos entfesselt“. Anstatt umzudrehen, will der Hypnotiseur weiter, er will „durch“. Wenn es auch nur eine Traumerscheinung ist, so ist sie so wahr als durchlebe sie sie in Wirklichkeit. Bei Anne Brocks-Huber „ist irgendeine Tür aufgegangen“, sie erlebt Stunden der Gewalt, sie wird „20 Mal“ von irgendwelchen Leuten „massakriert“, in irgendeiner Vergangenheit, in anderen Ländern. Es sind nur Bilder, „doch für die Seele sind sie wahr“.

Sie wird durch die Hypnose-Erscheinung schwer traumatisiert. Es ist wie ein Alptraum, den man am Morgen nach dem Aufwachen nicht sofort abschütteln kann. Der Leidensdruck ist andauernd und enorm. Umzubringen verbietet sie sich wegen der Kinder. Eine kurze Zeit verbringt sie in einer Klinik. Sie bekommt gleich mehrere Diagnosen. Antidepressiva helfen zwar, aber sie kann mit ihnen ihre „Gedanken nicht mehr zu Ende denken“. Anne Brocks-Huber: „Sie sind nicht nur weniger traurig, sie sind auch weniger glücklich.“

Sie entschließt sich, keine Medikamente zu nehmen. Sie schafft es, für ihre Kinder da zu sein, „wenn sie mich brauchen“. Oft sitzt sie stundenlang auf einer Treppe, bei einem Tee, und denkt. Sie denkt sich immer neue Wahrheiten aus. Sie erzählt sich – „meinem Gehirn“ – neue Geschichten zu den Bildern. „Vielleicht waren es nur TV-Bilder“? Vielleicht wollten die, die ihr weh taten, sie nur zurückhalten auf einem falschen Weg? Sie weitet die Methode aus, sie macht das heute noch so, sie hat für alle Erscheinungen des Lebens 25 verschiedene Sichtweisen parat. „Ich suche meinen persönlichen Sinn, keine dummen Sprüche.“ Es ist wie ein Puzzle, das sie ständig zusammensetzt aus Teilen des Christentums, des Buddhismus, der Quantentheorie Bis es passt. „Jeder kann das“, behauptet sie, „sich selbst rausziehen.“ Für jeden gebe es „eine persönliche Lösung, aber meine persönliche Lösung gilt für keinen anderen“.

Heute leitet Anne Brocks-Huber im Selbsthilfe-, Kontakt- und Informationszentrum Sekiz e.V. eine Selbsthilfegruppe gegen Depression. Ihr Rheuma ist weg, es ist durch „das Umdenken“ verschwunden. Krankheit ist eine Chance, sagt sie. Ohne die Schmerzen wäre sie „weiter gegangen in dem Trott“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false