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Von Erhart Hohenstein: Notbremse der SED: Seidel musste gehen

Nach den Mai-Wahlen 1989 wurde der ungeliebte Potsdamer Oberbürgermeister in die Wüste geschickt

„Manfred Bille wird in den kommenden Jahren maßgeblich die Geschicke der Stadt mitbestimmen“, prophezeiten die Brandenburgischen Neuesten Nachrichten in ihrem Bericht über die konstituierende Sitzung der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung am 22. Mai 1989 – heute vor 20 Jahren. Vom 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Heinz Vietze vorgeschlagen, wurde der 51-jährige Diplomstaatswissenschaftler einstimmig zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Der gelernte Feinmechaniker und Ingenieurökonom hatte zuvor als stellvertretender Vorsitzender des Rates des Bezirkes den Bereich Verkehr geleitet. In seiner Antrittsrede versprach er vor allem die „Lösung der Wohnungsfrage“, lebten doch Tausende Potsdamer in zu kleinen oder nahezu baufälligen Wohnungen.

Bille löste Wilfried Seidel ab, der 1984 die Nachfolge der langjährigen Oberbürgermeisterin Brunhilde Hanke angetreten hatte. Die SED zog damit die Notbremse, denn der Moskauer Parteihochschulabsolvent, der niemals lächelte, hatte in seiner unsicheren, manchmal schroffen Art bei den Potsdamern keinerlei Sympathien gewonnen, zugleich aber schwerwiegende „politische Fehler“ begangen. So reagierte er zögerlich, als bei der Unterzeichnung der Städtepartnerschaft am 25. Januar 1988 Bonns Oberbürgermeister Hans Daniels das Vorgehen der SED-Obrigkeit gegen die Bürgerrechtler bei der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung in Berlin kritisierte, und ließ das Besuchsprogramm zunächst weiterlaufen. Erst auf Anweisung der SED-Führung wurde die Bonner Delegation am 27. Januar vorfristig nach Hause geschickt. Zudem wurde Seidel zu einem der Erfüllungsgehilfen der Wahlfälschung vom Mai 1989. Schon im April war der treue Parteifunktionär mit anderen von SED-Politbüromitglied Horst Dohlus darauf eingeschworen worden, die 1989er Wahlen müssten das gleiche positive Ergebnis bringen wie die vorausgegangenen. Daraufhin wurden die Neinstimmen von 3580 auf 1599 verfälscht. Dies wurde von der an der Babelsberger Friedrichskirche angesiedelten Gruppe „Kontakte“ aufgedeckt und von den Bürgerrechtlern Pfarrer Hans Schalinski und Detlef Kaminski gegenüber dem Oberbürgermeister als Vorsitzendem der Kreiswahlkommission geltend gemacht. Die Abberufung Seidels war deshalb wohl auch ein Versuch der SED, ihn aus der Schusslinie zu nehmen.

Mit Seidel wurde am 22. Mai 1989 gleichzeitig mehr als ein Drittel aller Stadträte in die Wüste geschickt. Die personelle Erneuerung bedeutete aber keineswegs eine politische. Das wurde spätestens deutlich, als nach der Wende Mitte Juni 1990 der erste Wahlfälscherprozess begann. Angeklagt waren neben Seidel seine erste Stellvertreterin Marlies Nopens, die die kriminelle Aktion organisiert haben soll, die Stadträtin für Finanzen Karin Bachmann wegen rechnerischer Verfälschung der Ergebnisse und der Stadtrat für Wohnungswirtschaft, Lothar Hölzer, dem die Schreibarbeiten übertragen wurden.

In dem Prozess agierten die Beschuldigten mit Befangenheitsanträgen gegen die Richter, da diese von der aus der Wahlfälschung gebildeten Stadtverordnetenversammlung – also auch von den Angeklagten selbst – berufen worden waren. Die Legislaturperiode der Richter endete am 6. August 1990; zuvor war im Mai eine neue Stadtverordnetenversammlung gewählt worden – in den ersten und einzigen freien und demokratischen Wahlen der DDR-Ära. Neuer Oberbürgermeister wurde Horst Gramlich (SPD). Die BNN-Prophezeiung über den langjährigen Einfluss des SED-Mannes Bille erfüllte sich also nicht.

Ohnehin war die SED-Kommunalpolitik schon am 21. Mai 1989 bei der Premiere des Stücks „Revisor oder Katze aus dem Sack“, einer satirischen DDR-Version von Jürgen Groß zu Gogols Komödie, im Hans Otto Theater kräftig durch den Kakao gezogen worden. Darin versetzt ein vermeintlicher Revisor, gespielt vom jungen Jörg Schüttauf, den Oberbürgermeister und die Stadtspitze in Panik.

Premierengast war auch der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Günther Jahn. „Er sah sich dieses Stück an ohne jegliche Regung und ohne Applaus“, heißt es in einem Stasi-Bericht, „Beim Hinausgehen soll Jahn geäußert haben: ,Die Konterrevolution marschiert!'' Das Stück wurde nach drei Vorstellungen aus dem Spielplan gestrichen.“ Die Stasi kam zu dem überraschenden Schluss, Jahn habe früher neuen Entwicklungen in der Kulturszene progressiv gegenüber gestanden, sei aber „in den letzten zehn Jahren stehen geblieben“. Fälschlich erblicke Jahn in dem Stück auch einen Angriff auf Oberbürgermeister Seidel, doch das sei schon 1981, lange vor dessen Amtsantritt, geschrieben worden.

Erhart Hohenstein

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