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Ganz schön spitz. Die Erfindung der Reißzwecke, im Volksmund auch Pinne genannt, stammt offenbar aus Lychen. Heute ist in der Stadt von der Erinnerung an die Erfindung wenig zu spüren.

© Michael Urban/ddp

Von Bernd Kluge: Auf den Spuren der Reißzwecke

Lychen tut sich mit touristischer Vermarktung der in der Stadt produzierten „Pinne“ schwer

Lychen - Wenn Brigitte Oestreich heute eine Reißzwecke in den Händen hält, verzieht sie unwillkürlich das Gesicht. „Einen Augenblick nicht aufgepasst und die Stanze knallte einem auf den Finger“, erzählt die 74-Jährige aus dem uckermärkischen Lychen. Sie muss es wissen, hat sie doch jahrelang in der Reißzweckenfabrik des Ortes gearbeitet. Darauf ist Oestreich auch heute noch stolz.

Schließlich stammt die Erfindung der Reißzwecke, im Volksmund auch „Pinne“ genannt, offenbar aus Lychen. Heute ist in der Stadt von der Erinnerung an die Erfindung wenig zu spüren. Nach dem Willen der Tourismuswerber soll sich das aber ändern.

Direkte Beweise gibt es zwar nicht, dass der Uhrmacher Johann Kirsten um 1900 diese Erfindung machte. „Doch das wurde so überliefert, und schließlich hatten wir hier ja auch eine Reißzweckenfabrik“, sagt Oestreich. Kirsten soll die Angewohnheit gehabt haben, Merkzettel an die Wand seiner Werkstatt zu „pinnen“.

Die dafür verwendeten Nägel drangen beim Eindrücken allerdings in den Daumen. Um dem abzuhelfen, so wollen es Ortschronisten herausgefunden haben, verband der Uhrmacher mittels einer Stanze den Nagel mit einem gewölbten Stück Blech – fertig war die Pinne.

Aus Geldnot soll Kirsten seine Erfindung 1903 an die Lychener Kaufmannsfamilie Lindstedt verkauft haben. Diese wiederum meldete sie beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin an. Eine Kopie der Urkunde hat sich der Lychener Tourismusverein besorgt. Zahlreiche Belege und historische Dokumente gibt es auch für die zeitgleich beginnende Reißzweckenproduktion in der Lindstedtschen Metallkurzwaren-Fabrik.

Brigitte Oestreich kam 1956 als Arbeiterin dazu, als junge Mutter, die für die Familie etwas dazu verdienen wollte. „Für Frauen war das die ideale Arbeit, sitzend und körperlich nicht schwer“, erinnert sich die Lychenerin.

Trotz hoher Normvorgaben und Arbeitszeiten von Montag bis Samstagmittag habe die Reißzweckenproduktion Spaß gemacht. „Wir waren 25 bis 30 Frauen in einem großen Raum, jede eine Stanze vor sich, die per Fußpedal bedient wurde“, erzählt Oestreich. Die Geräte, die Nähmaschinen glichen, machten ihren Angaben nach einen Höllenlärm, unterhalten habe sie sich aber mit ihren Nachbarinnen immer. „Jeder kannte jeden, da blühte Klatsch und Tratsch“, erinnert sich die gelernte Säuglingsschwester. Allerdings war der Verdienst für die Stanzerinnen ziemlich mager, lediglich 300 Mark gab es monatlich. „Bis 1960 haben wir Pinnen gebaut. Danach gab es dafür Automaten, und wir löteten Schaltertafeln und Klingelkästen“, sagt Oestreich. Erst in den 70er Jahren machte sie in dem einstigen Metallkurzwarenbetrieb – zu der Zeit bereits das Ölheizgerätewerk Sirokko – ihre Ausbildung zur Metallfacharbeiterin und blieb dort bis zur Wende, dem endgültigen Aus für das Werk. Als „ein Geschenk der Geschichte“ bezeichnet die Lychener Tourismuschefin Bärbel Hampel die Reißzwecken-Erfindung für den Ort.

Auch wenn Uhrmacher Kirsten kaum bekannt ist und bisher trotz intensiver Recherchen in diversen Kirchenbüchern nicht einmal seine Geburts- und Sterbedaten oder sein Grab ausgemacht werden konnten. „Die Sache hat es verdient, in Ehren gehalten zu werden. Über Jahre haben viele Familien von der Pinne gelebt“, sagt Hampel und verweist auf das Beispiel der Oestreichs. Zu nutzen wussten die Uckermärker in dem idyllisch gelegenen Erholungsort das Besondere ihrer Geschichte bisher nur wenig, wie Hampel einräumt. Eine Arbeitsgruppe, der vor allem ehemalige Mitarbeiterinnen der Lychener Reißzweckenfabrik angehören, trug Erinnerungen zusammen, die in einem Faltblatt veröffentlicht wurden.

16 überdimensionale Reißzwecken mit rot gestrichener Kappe sind in der Stadt aufgestellt. Darauf befindliche Informationstafeln verweisen Gäste auf Sehenswürdigkeiten in und um Lychen. Seit der 750-Jahr-Feier Lychens im Jahr 2003 macht zudem eine zwei Meter hohe Säule, auf der eine silbern glänzende Reißzwecke thront, auf die Tradition aufmerksam.

Trotzdem ist bisher kaum bekannt, dass die Reißzwecke einst quasi von Lychen aus ihren Siegeszug durch die Welt antrat. Während die Flößertradition überregional ein Begriff ist, ein eigenes Museum im Ort hat und das gleichnamige Fest alljährlich Tausende Besucher anzieht, steckt die Vermarktung der „Pinne“ noch in den Kinderschuhen. Zwar erinnert eine Gedenktafel am früheren Wohnhaus von Kirsten an den Erfinder, doch ansonsten steht das Gebäude ebenso leer wie die frühere Reißzweckenfabrik. „Für ein echtes Heimatmuseum fehlt der Stadt einfach das Geld“, sagt die Tourismuschefin. Und Sponsoren zu finden, sei in der Uckermark äußerst schwierig. Deswegen sei sie „für jede Anregung dankbar“, fügt Hampel hinzu.

Bernd Kluge

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