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Landeshauptstadt: Sandkastenspiele für Mitteleuropa

Ein Ex-NVA-Offizier veröffentlichte in Potsdam ein Buch über den „Kriegsschauplatz Deutschland“

Es dürfte schon ein wenig her sein, dass in Potsdam so viele Generäle an einer Stelle versammelt waren. Die Farbe des Abends ist grau, was von einigen Bundeswehr-Uniformen kommt, aber zumeist von der Haarfarbe der überwiegenden Zahl der Anwesenden, denn sie sind zum Teil seit langer Zeit pensioniert. Grund der Zusammenkunft im Hans-Meier-Welcker-Saal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr ist ein Buch. Geschrieben hat es Siegfried Lautsch, der 2007 als Oberstleutnant der Bundeswehr in den Ruhestand ging, zu DDR-Zeiten jedoch Leiter der operativen Planung im fünften Militärbezirk in Neubrandenburg war. Der Titel seines in Potsdam veröffentlichten Buches: „Kriegsschauplatz Deutschland. Erfahrungen und Erkenntnisse eines NVA-Offiziers“.

Lautsch ist einer der ersten ranghohen NVA-Offiziere, der die geheimen Pläne der NVA für den E-Fall, den Ernstfall, offenlegt. „Mir geht es nicht um Enthüllung, nicht um Geheimnisverrat“, sagte der 1949 Geborene, nicht sehr hoch gewachsene Mann bei der Präsentation des Buches am Mittwochabend, „sondern um Klarstellung“. Einige ehemalige Genossen werfen ihm das Plaudern aus dem Nähkästchen vor, doch Lautsch hat sich seine Publikation extra beim Militärstab in Moskau absegnen lassen – wenn es für die ehemaligen „Freunde“ mit 25-jährigem Abstand in Ordnung geht, dann sollte das wohl auch bei den ehemaligen NVA-Kollegen der Fall sein. Vor 1990, glaubt eine große deutsche Tageszeitung zu wissen, hätte sich Lautsch für seine Publikation noch einen Genickschuss eingeholt.

Was hat Lautsch zu berichten? Ihm geht es, sagte er dem Publikum – zu dem nicht nur Ex-Ministerpräsident Manfred Stolpe, sondern mit Hans-Georg Wieck auch ein ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) zählte – um den Wandel der strategischen Ausrichtung in den 1980er-Jahren. Während vor 1985 auch Angriffsoperationen nach Westen geplant wurden, seien die Angriffspläne seit 1985 nicht mehr angefasst und nur noch neue Verteidigungspläne erarbeitet worden.

Lautsch wollte klarstellen, dass es nicht Michail Gorbatschow war, der die Militärdoktrin änderte, sondern die sowjetische Generalität bereits kurz vor dem Amtsantritt des späteren Friedensnobelpreisträgers. Der Grund sei das Militärdebakel in Afghanistan gewesen, aber auch die starke Opposition in Polen sowie die Tatsache, dass der Sowjetunion die Mittel fehlten, dem Weltraumrüstungsprogramm von US-Präsident Ronald Reagan zu folgen. Schon 1987, berichtet Lautsch, seien erste sowjetische Truppen aus der DDR abgezogen worden.

Auf dem Podium saßen mit Lautsch zwei pensionierte Generalmajore. Der eine, Peter Herrich, diente in der NVA, der andere, Hanno Graf von Kielmansegg, in der Bundeswehr. Zwischen beiden knisterte es etwas in der Frage, wer wen nun eigentlich angreifen wollte, die Nato den Warschauer Pakt oder der Warschauer Pakt die Nato? Im Grunde ist es die Frage nach den Gründen des Kalten Krieges, von dem sich einige angesichts der noch heute auftretenden Spannungen zwischen den USA und Russland fragen, ob er wirklich vorbei ist.

Von Kielmansegg, fast zur selben Zeit wie Lautsch auf der westlichen Seite für strategische Planung zuständig, erklärte, die Nato-Staaten in Westeuropa seien kräftemäßig nie in der Lage gewesen, den Osten anzugreifen. Selbst Gegenangriffe – mit Ausnahme der der Luftwaffe – seien „immer nur bis zur innerdeutschen Grenze geplant worden“. Das Kräfteverhältnis hätte zwischen eins zu zwei bis eins zu fünf betragen. Der Warschauer Pakt habe eine „Kriegsführungsstrategie“ gehabt, die Nato eine „Kriegsverhinderungsstrategie“. Von Kielmansegg: „Die Bundeswehr war schmal, wir hatten nie genug Kräfte.“ Zur Abschreckung habe es daher als Drohung das Konzept des Ersteinsatzes von Kernwaffen gegeben. NVA-Ex-General Herrich, der nicht wie von Kielmansegg den Eindruck vermittelte, im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften, eine Bundeswehr-Dienststelle, ein Heimspiel zu geben, entgegnete kurz: „Da sind die Sichtweisen nach wie vor unterschiedlich.“ Die Nato habe „ein erhebliches Bedrohungspotenzial“ besessen. Sein Bundeswehr-Pendant wurde deutlicher, der Osten habe sein Feindbild aus politisch motivierten Gründen gefälscht, „ein viertes und ein fünftes deutsches Korps wurde erfunden“, aus Heimatschutzgruppen „wurden ganze Divisionen“. „Die Nato-Kräfte hätten nie einen Angriffskrieg führen können“, so von Kielmansegg. Nach 1990 habe ihm ein russischer General in Moskau zugeflüstert, „natürlich wussten wir, die Nato würde nie angreifen“. Doch mit dieser Nachricht hätten sie so manches Rüstungsprojekt in Moskau nicht durchgekriegt „und unsere Satelliten wären uns von der Stange gegangen“ – gemeint sind die osteuropäischen Länder.

In der Diskussion stützte Generalmajor a.D. Dieter Brand aus dem Publikum die These von der friedfertigen Nato mit einem eindrucksvollen Argument: Ein Angriff auf die DDR hätte im Erfolgsfall die deutsche Einheit bedeutet – „und dazu wären unsere Alliierten nie bereit gewesen“.

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