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Unter der Brücke. In Potsdam ist die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Kapazitäten in den Notunterkünften sind ausgelastet.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Quartier Das letzte

Obdachlos in Potsdam. Zwei Schicksale – aufgeschrieben von Peter Könnicke

Auf der einen Hand John Lennon und auf der anderen Tina Turner. In blauen Tattoo-Lettern präsentiert Achim* seine musikalische Vorlieben. „Hab ich ausm Knast“, sagt er. Die Zeit im Gefängnis war lang genug, um viele Köpfe und Namen zu verewigen. Als er das erste Mal ins Gefängnis musste, war er gerade 18. Fünfeinhalb Jahre hat er gesessen, weil er zu kräftig zugelangt hatte. Und dann, nur kurze Zeit später, noch mal zwei Jahre. „Dabei bin ich gar nicht hitzköpfig“, behauptet Achim von sich. Das Alter mache ruhiger und weiser. Achim ist jetzt 55.

Es lässt sich leicht ausmalen, was passiert, wenn die schweren Hände, die jetzt friedlich auf dem Tisch liegen, mal zulangen. „Ich hab mein Leben lang mit meinen Händen gearbeitet“, sagt Achim. Nach der achten Klasse wurde er Betonwerker, nach der Wende arbeitete er für eine Reinigungsfirma, putze nachts Büros und Gaststätten. Aber jetzt wüssten sie auf dem Arbeitsamt nicht, wo sie ihn hinstecken sollen. Er sei nicht zu vermitteln: zwei Herzinfarkte, Alkoholiker – und obdachlos.

Achim ist einer von derzeit 91 Obdachlosen, die in der Unterkunft der Arbeiterwohlfahrt am Lerchensteig angekommen sind. Das Heim am Potsdamer Stadtrand ist vor einem Jahr von 80 auf 95 Plätze erweitert worden. In zwei Wohnhäusern leben Obdachlose auf zwölf Quadratmetern in Einzelzimmern. Viele sind Gestrandete: alkoholabhängig, psychisch krank, mitunter streitsüchtig und zum Teil sozial entfremdet. „Manche sind schon seit 15 Jahren hier“, sagt Heimleiter Frank Wolter. Für sie ist es das letzte Quartier.

Achim ist seit einem Jahr am Lerchensteig. Ein Tisch, ein Bett, ein Schrank, ein Fernseher trennen ihn von der Straße. Seine Geschichte beschreibt jene verhängnisvolle Abwärtsspirale, die ihn in die letzte Masche des sozialen Netzes trieb: „Ich hab gesoffen, die Frau hat mich verlassen, ich hab den Job verloren und konnte die Miete nicht mehr zahlen“, erzählt er. Es folgte der Rausschmiss, eine von fast 200 registrierten Zwangsräumungen im vergangenen Jahr in Potsdam. Eine zeitlang habe er noch bei einem Freund gewohnt, aber bei täglich 15 Flaschen Bier und reichlich braunem Schnaps „ging das nicht gut“, gesteht er.

Die steigende Zahl an Obdachlosen ist die Schattenseite der Boomstadt Potsdam. Teure Mieten für sanierte Altbauhäuser und frische Wohnparks, der Mangel an bezahlbaren Wohnungen und sozialem Wohnraum treibt nicht nur Familien mit geringem Einkommen aus der Stadt. Am unteren Ende der Gesellschaft gibt es zunehmend Not, die Miete zu zahlen – vor allem bei anhaltender Armut. Auch wenn Potsdam viel tut, um in Not Geratenen ihre Bleibe zu sichern. 42 Millionen Euro fließen pro Jahr aus öffentlichen Töpfen für Mieten und Betriebskosten von Potsdamer, die sich wegen fehlender oder geringer Einkommen sonst keine Wohnung leisten könnten. Weitere 3,3 Millionen Euro gibt die Stadt als Wohngeld aus. Und dennoch sind – zum Teil aus individuellen Gründen – Zwangsräumungen die Folge gravierender Armut.

60 000 Euro Schulden hat Achim. „Ich will da rauskommen“, sagt er und einen Moment strafft sich der kräftige Oberkörper und die breiten Schultern spannen sich unter der rot-blauen Trainingsjacke. Aber die blauen Augen bleiben milchig matt. „Ich mach hier eine Suchtberatung“, erzählt er. Ganz weg vom Alkohol sei er nicht, aber er trinke nicht mehr viel. „Ich habe angefangen nachzudenken und begriffen, dass ich wieder was auf die Reihe kriegen muss“, meint Achim.

Als er vor einem Jahr von der Wohnungseinweisung der Stadt ins Obdachlosenheim geschickt wurde, gab es in Potsdam rund 84 800 Wohnungen. Preiswerter und belegungsgebundener Wohnraum wird wegen auslaufender Mietpreisbindungen immer knapper. Bis zum Jahr 2019 betrifft das in Potsdam 8 900 Wohnungen. Achim kennt diese Zahlen nicht, aber er hat ein Gefühl: „Ich schätze, es wird schwer für mich, in Potsdam eine Wohnung zu kriegen.“

* Name geändert

Wohin die Reise gehen kann, sieht Markus* jeden Tag. Wenn er aus der Tür kommt und nach rechts schaut, sieht er zwei lang gezogene Wohnbaracken. „Das sind die Abgestorbenen“, sagt Markus. Er meint die älteren Bewohner des Obdachlosenheims am Lerchensteig. Markus ist 21 – und wohnungslos.

Er gehört zu den „Jungen Wilden“. So heißt das Wohnprojekt der Arbeiterwohlfahrt, das junge Potsdamer von der Straße holt oder davor bewahrt. Doch wild ist Markus nicht. „Ich bin saufaul“, sagt er von sich selbst. Jahrelanger Drogenkonsum hat bei dem 21-Jährigen Spuren hinterlassen. Es ist eine Begegnung im Zeitlupentempo, bei der Markus gleich zu Beginn von sich meint: „Ich bin ein ganz komischer Typ.

„Er sieht fast noch aus wie ein Kind, trotz der Bartstoppeln. Doch die kurze Reise zurück in seine Kindheit ist keine Vergnügungsfahrt und verrät, dass er nicht lange Kind war: familiäre Probleme, Streit und Gewalt. Als er sechs ist, flieht seine Mutter mit ihm ins Frauenhaus. Die Schule hat er regelmäßig geschwänzt, er schafft es bis zur neunten Klasse. „Ich war immer nur auf Unfug aus“, sagt Markus. Aus Unfug wurden „kriminelle Dinger“, Drogen kamen hinzu, „Suchtproblematik“, nennt es Markus. Mit 14 kam er ins Heim. Der Rückkehrversuch nach Hause in den Schlaatz scheiterte, ebenso das Leben in einer WG. „Ich hab auch eine Weile bei einem Freund gewohnt. Aber das funktionierte nicht auf Dauer“, meint Markus.

Vor zwei Jahren strandete er am Lerchensteig. Das AWO-Wohnprojekt gab es da seit gut einem Jahr. Zwei Wohnblöcke wurden für die „Jungen Wilden“ saniert. Zunächst gab es 18 Plätze. „Aber es wurde schnell deutlich, dass das nicht reicht“, sagt Projektleiter Sascha Podubin. Inzwischen gibt es 24 Plätze. Alle sind belegt. „Wir mussten darauf reagieren, dass zunehmend junge Leute kommen“, begründet Podubin das Wohnprojekt für jüngere Obdachlose. Dabei unterscheiden sich die finalen Gründe, die zur Wohnungslosigkeit junger Menschen führen, nicht von denen älterer Betroffener. „Rausschmiss, Kündigung, Zwangsräumung, Haftentlassung“, zählt Podubin auf. Wie lange junge Obdachlose bleiben, sei individuell verschieden. Das Projekt bietet lediglich ein niedrigschwelliges Angebot. „Manchmal ist es primäres Ziel, jemanden in eine therapeutische Einrichtung zu vermitteln“, sagt Podubin. Aber vor allem bei drogenabhängigen Bewohnern sei die Zeit bis zur Einsicht lang. „Man bewegt sich hier in extrem kleinen Schritten, bei denen die Bewohner das Tempo vorgeben“, sagt Podubin.

Markus ist langsam. Zwar gehe er oft joggen, „trotz der Kifferei“, wie er sagt. „Wenn ich merke, dass ich ordentlich Luft kriege, laufe ich schneller und schneller.“ Aber meist fühle er sich ohne Antrieb. Er habe mal für einen Forstbetrieb im Wald gearbeitet. „Nach sechs Stunden war ich körperlich fertig, ich war total im Arsch“, sagt er. Er hoffe, dass er noch arbeiten könne. Doch es kann sein, dass er mit 21 Jahren arbeitsunfähig wird.

Einsam fühlt sich Markus nicht. „Ich bin nicht der Typ, allein zu sein“, sagt er. „Mich finden auch immer alle nett.“ Ein Fitnessraum, ein regelmäßiges Gemeinschaftsfrühstück, Gespräche mit Sozialarbeitern, Hilfe bei Behördengängen oder beim Ausfüllen von Formularen , weil er „den Papierscheiß“ nicht versteht – es gibt eine Reihe von Angeboten, sodass sich Markus nicht verliert.

Und er selbst hat Hoffnung: „Das hier ist eine Übergangslösung.“ Es soll nicht das letzte Quartier sein, wie „bei denen da drüben“. Markus nickt in Richtung des Obdachlosenheims. „Ich glaube, die haben das extra so gemacht, dass wir jeden Tag sehen, wohin die Reise gehen kann“, sagt er. „Aber da will ich nicht hin“.

* Name geändert

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