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KulTOUR: Der Tod ist mein Engel

Comedie Soleil zeigt die letzten beiden Stunden von Sacco und Vanzetti, die 1927 hingerichtet wurden

Werder/Havel - Die „Comedie Soleil“, einst als „Privattheater“ angetreten, hat eigentlich immer Flagge zu zeigen versucht. Es ging vor allem um die Unabhängigkeit des eigenen Anspruches, der Bühne, des freien Wortes in dieser Gesellschaft. Wenn das auch in vielen Fällen künstlerisch nicht aufging, so hat sich die Comedie doch dergestalt von anderen abgesetzt, die in Abhängigkeit lebten und sich mehr und mehr dem Unterhalten, dem Unverbindlichen, verschrieben.

Ach, es gab ja Zeiten, wo man auf der Bühne Staat und Gesellschaft auch mal infrage stellen konnte, ohne dass die Politik samt ihrer Wächter gleich aus dem Sattel hopsten! Und wenn, dann war es gut so. Da probte Heiner Müller in Texten ganz öffentlich die Subversion, Dario Fo zelebrierte inmitten bürgerlichen Wohlstands mit allem Gift der Welt die Anarchie – und der Geist wusste sofort, was Nahrung, und was nur Unterhaltung war. Mit der anarchistischen Komödie „Sacco & Vanzetti“ setzt die Werderaner Comedie jetzt ihr Selbstverständnis in einem längst nicht mehr konsensfreien Raume fort.

Der US-amerikanische Autor Louis Lippa ist selbst Theatermann. Er wurde ein Jahr nach der Hinrichtung derItaliener geboren, also 1928. Angeklagt hatte man Sacco und Vanzetti 1921 wegen eines doppelten Raubmordes, den sie nicht begangen hatten. Weil aber nach 1917 alle Welt in Aufruhr war, der Zar gestürzt und die US-Staatsmacht Angst vor Kommunisten und Anarchisten hatte, wurde ein politisch motivierter Justizmord eingefädelt, trotz weltweiter Proteste. 1927 dann die Vollstreckung an Sacco, dem Schuster, und dem Fischhändler Vanzetti auf dem elektrischen Stuhl. Natürlich stellen sich hier Fragen, nach dem Proporz von Staat und Gesellschaft heute, nach Einwanderern und Andersdenkenden, aber das gehört zur Rezeption.

Regisseurin Karoline Hugler zeigt die letzten beiden Stunden der Todgeweihten im Outfit ihrer Zeit als eine weitgehend gelungene Melange aus Realspiel, Groteske, Parodie und Clownerie. Absurd ist das Ganze ja sowieso. Das Muster: Hier die Unschuld, dort eine niederträchtige Staats- und Juristen-Intrige. Dazu baute Jens-Uwe Behrend einen nach hinten verjüngten Raum, Gitter bis zur Decke, dahinter Lisa Klauser, zuständig für sehr emotionsgeladene Klänge an Banjo und E-Piano. Saskia Rutner gibt den Anarcho-Genossen Vanzetti, Karoline Hugler einen gefühlsgesteuerten Sacco. Über allem hängt ein riesiger Hammer, der alles erschlägt, was von der offiziellen Version abweicht. Das Stück selbst beschreibt, wie Tatsachen verdreht, Beweise gefälscht, Geschworene und Anwälte genötigt werden, um ein politisches Urteil mit Abschreckungscharakter zu erzwingen. Und wie es den ganz unschuldigen Delinquenten in ihren letzten Stündlein ergeht. Sacco und Co. übernehmen in teils epischer Spielweise die Rollen aller Akteure. Verwandlungen, Wechselkostüme, Spiel im Spiel, dazu Emotionen von ganz witzig bis todtraurig. Auch das Publikum darf mitspielen. Toll, wie Hugler den Obersten Richter gibt, oder die Verurteilten Hand in Hand stehen, um stärker zu sein. Angst? Sacco sagt in seiner Verwundung: „Der Tod ist mein Engel!“

Diese leichtgängige Inszenierung, so lobens- wie empfehlenswert, hat viele Vorteile. Sie bringt Substanz ins Gehirn, stellt Fragen an und für die Gegenwart, vor allem hat sie jenes anarchistische Element, das jedes unabhängige Theater braucht, um authentisch zu sein, und zu bleiben. Der Tod ist sein Engel ja sowieso. Gute Arbeit also! Gerold Paul

Weitere Vorstellungen am 5. 11. um 19.30 und am 6.11. um 17 Uhr

Gerold Paul

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