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Lara Heller als Sammy in „Wuschweiger“ von Jan Sobrie und Raven Ruëll, Regie von Michael Böhnisch.

© Thomas M. Jauk

Stück für Kinder am Hans Otto Theater: Willkommen im Wir-sitzen-in-der-Scheiße-Club

Eine Freundschaft im „Assi-Block“: Das Kinderstück „Wutschweiger“ erzählt berührend und trotzig von Armut, Scham und Einsamkeit.

Was tun, wenn die Eltern plötzlich immer kleiner werden? Nicht in übertragenem Sinne, nicht infolge eines überraschenden Wachstumsschubs beim Nachwuchs, sondern ganz konkret: als Ergebnis eines unerwarteten, unerklärlichen Schrumpfens. So erlebt das Ebeneser (Yannick Heckmann), als er eines Tages von der Schule nach Hause kommt. Er kann die Eltern nicht finden, sieht nur ihre Schuhe im Flur. Sucht und ruft sie, und findet schließlich den Vater: Er sitzt auf dem Rand eines Blumentopfes. Die Beine hängen in der Luft.

Neuzugang im „Assi-Haus“

Es ist ein bedrückendes Bild, das die niederländischen Autoren Raven Ruëll und Jan Sobrie in ihrem 2018 uraufgeführten Stück „Wutschweiger“ dafür gefunden haben, was mit Ebeneser da gerade passiert. Er ist der Protagonist in der jüngsten Kindertheaterpremiere am Hans Otto Theater. Kurz zuvor ist sein Vater entlassen worden, nach 33 Jahren in einem Job. Ebeneser ist mit den Eltern daher in eine neue, kleinere Wohnung gezogen: ein Wohnblock, ein „Assi-Haus“, so nennt es Sammy (Lara Heller), die schon seit zehn Jahren da wohnt. „Willkommen im Wir-sitzen-in-der-Scheiße-Club“, das ist ihre Begrüßung.

Dass man nicht so richtig weiß, ob man über die Schrumpfszene lachen soll oder weinen, spricht für die Regie von Michael Böhnisch. Hier werden große, schwere Themen verhandelt: Kinderarmut, Scham, Einsamkeit, sozialer Abstieg, sogar Tod. Und trotzdem ist dies ein unterhaltsames Stück, eins, das auch Mut machen will. Ein Balanceakt, der gelingt - wenn vielleicht auch nicht unbedingt schon für Kinder ab neun, wie vom Theater empfohlen. Kinder, die dem klassenbesten Snob auf der Bühne applaudieren, konnten der Geschichte womöglich nicht so ganz folgen.

Und Ebenesers Reaktion auf die Veränderung der Eltern? Sie steht im Stücktitel: Er wird wütend. Tritt gegen den Snackautomaten, brüllt, pfeffert die Reisetasche, die er für den Klassenausflug gepackt hatte, auf den Boden. Nach Berchtesgaden sollte es gehen, zum Skifahren, gedacht als „Erinnerung fürs Leben“. Ein großes Plakat auf der Bühne von Juan Léon kündet von dieser Hybris: „You can do it“ steht da, vor idyllischer Berglandschaft. Für zwei, deren Eltern die Stromrechnungen kaum bezahlen können, purer Zynismus.

Zwei gegen alle

Dass Skiurlaube eine teure Sache und für Kinder wie Sammy und Ebeneser nicht zu stemmen sind - für den Klassenverband war das egal. Also wüten Sammy und Ebeneser gemeinsam gegen die, die sie ganz bewusst zurückgelassen haben. Später schweigen sie gemeinsam. Zwei gegen alle.

Die beiden könnten unterschiedlicher kaum sein, und wie Lara Heller und Yannik Heckmann diese trotzigen, traurigen, aber nie verzweifelten Kinder spielen, ist fabelhaft. Yannik Heckmann ist „ein Schweiger“, zutiefst verunsichert von dem, was er erlebt - dass sein Vater weint, will er nicht sehen, dass sie bald wieder wegziehen, gegen alle Wahrscheinlichkeit glauben. Lara Heller als energievolle, humorvolle Sammy wirkt abgeklärter, härter - und ist unter der rauen Schale ebenso verletzt wie Ebeneser.

Dass bei so viel Ambivalenz die meisten Erwachsenen ganz schön eindimensional erscheinen (Bullys, Protzer, Abgehängte), dass der erschütternde Abstieg der Sammy vor dem Hintergrund deutscher Sozialsysteme ganz schön unwahrscheinlich wirkt - geschenkt. Allein die Erkenntnis, dass man auch aus Wut schweigen kann, ist für Große und Kleine jeden Besuch dieses Stückes wert. Und die Frage, warum man wem applaudiert, könnte sich im Nachgang trefflich diskutieren lassen.

Wieder am 6.., 8., 22. und 23.11. in der Reithalle des Hans Otto Theaters

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