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Janine Kreß, Charlott Lehmann als Mutter und Tochter.

© Thomas M. Jauk

Ein Puzzle aus Traumata: Drama auf der Intensivstation

In der Reithalle beginnt die neue Spielzeit mit „Frau Schmidt fährt über die Oder“ - das Stück thematisiert die Nachwirkungen von Kriegstraumatisierungen.

Von Astrid Priebs-Tröger

Dieser Theaterabend beginnt und endet auf einer Intensivstation. Dort stirbt gerade Susanne Schmidt, deren kurzes Leben 1959 in Polen begann und 2021 in Bayern endete. „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“, schrieb William Faulkner 1951. Christa Wolf nahm diesen Satz 1976 in „Kindheitsmuster“ auf und setzte hinzu: „Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Massenhafte Traumatisierungen

Diese Sentenzen könnte man auch Anne Habermehls Stück „Frau Schmidt fährt über die Oder“, das am Wochenende in der Reithalle des Hans Otto Theaters zur Premiere kam, voranstellen. Mit dem Unterschied, das der 1981 geborenen Autorin Habermehl inzwischen etablierte Begriffe wie transgenerationale Weitergabe beziehungsweise Kriegskinder und –enkel zur Verfügung stehen, die die Folgen der massenhaften Traumatisierungen besonders infolge des 2. Weltkrieges beschreiben.  

Im Telegrammstil erzählt

Die Inszenierung von Marlene Anna Schäfer findet in einem Raum, der wie ein Wartesaal anmutet, statt. In 100 Minuten wird das Leben von Susanne Schmidt in zahlreichen Rückblenden wie im Telegrammstil erzählt. 1945-1990-2003-2021 sind dessen Eckpunkte und Brüche. 1945 steht für das Kriegsende, das ihren Vater traumatisierte.

Nach dem Mauerfall 1990 verlässt die geborene Deutsche Polen in Richtung Westen, bringt in Bayern ihre einzige Tochter zur Welt, die ihrerseits 2003 ihre Mutter verlässt. Sie, die 1990 euphorisch ins vereinigte Deutschland aufbrach, ist dort nie wirklich angekommen – das ist das bittere Fazit der atmosphärisch dichten Inszenierung, die auch mit Videoprojektionen arbeitet.

Stark und dabei doch so fragil

Janine Kreß und Charlott Lehmann verkörpern die beiden starken und dabei doch so fragilen Frauen. Lehmann spielt die junge Susanne und dann später auch ihre jugendlich aufmüpfige Tochter Annemarie. Beiden steht eigentlich die ganze Welt offen. Wären da nicht die übernommenen Traumatisierungen bei der Mutter, die ihrerseits zu unbeabsichtigten Verhaltensweisen und diese wiederum zu neuen Traumata führen.

Insgesamt mutet „Frau Schmidt fährt über die Oder“ wie ein hochkomplexes Puzzle an.

© Thomas M. Jauk

Am prägnantesten ist das in der Mutter-Tochter-Beziehung herausgearbeitet. In der Familie ist – wie in vielen Familien diesseits und jenseits der Oder - wenig über die eigenen Kriegs-Verstrickungen gesprochen worden. Doch diese wirken nach und so gelingen Susanne Schmidt zum Beispiel keine guten tragenden Erwachsenen-Beziehungen. Und die zu ihrer Tochter wird von einer Umkehrung des Mutter-Kind-Verhältnisses geprägt, dem die 13-Jährige schließlich in die Jugendnothilfe entflieht.

Im Stück, das überwiegend aus Monologen besteht und doch in seiner auserzählten Breite wie ein Roman wirkt, gibt es mehrere Männerfiguren, die von Joachim Berger und Jan Hallmann verkörpert werden. Berger überzeugt sowohl als dementer Großvater, den die Kriegserinnerungen als Flashbacks überfallen als auch als suspendierter alkoholsüchtiger Pfarrer, der Susanne Schmidt als Einziger in ihren letzten Tagen beisteht. Jan Hallmann verkörpert eine nicht genauer bezeichnete Figur Micha, die sowohl als Opfer am Kriegsende aufscheint, als auch später ein Freund von Annemarie wird, oder als deutscher Neonazi an Susannes Tür klopft.

Insgesamt mutet „Frau Schmidt fährt über die Oder“ wie ein hochkomplexes Puzzle an, das danach schreit, besonders im Angesicht des Ukraine-Krieges, dass aus seinen vielen Einzelteilen endlich zusammenhängende Bilder zusammengesetzt werden.

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