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Kultur: Ein Naturbursche auf Winterreise

Matthias Goerne sang im Nikolaisaal Liederzyklus von Franz Schubert

Matthias Goerne sang im Nikolaisaal Liederzyklus von Franz Schubert Von Babette Kaiserkern Wer mit Franz Schubert auf „Winterreise“ geht, erfährt mit schmerzhafter Genauigkeit, was „Weltschmerz“ bedeuten kann. Dieser so schwer übersetzbare Begriff, der erstmals von dem romantischen Dichter Jean Paul gebraucht wurde, findet seinen wohl kongenialsten Ausdruck in Franz Schuberts Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller. Bodenlose Traurigkeit und entrückte Todessehnsucht eines von der Welt entfremdeten Individuums bilden die Substanz dieser ergreifenden Lieder - schwere Kost, die eigentlich nur für Erwachsene zu empfehlen ist. Gleichwohl - die „Winterreise“ zieht auch heute noch das Publikum magnetisch an, besonders, wenn sie von einem Starsänger wie Matthias Goerne gesungen wird. Der gefeierte Bariton gab im Nikolaisaal anlässlich der Vocalise 2003 eine umjubelte Darbietung, die dennoch Wünsche offen ließ. Die ersten vier Lieder wirkten routiniert, seltsam glatt, mit dick aufgetragenen Ausrufezeichen versehen. Geläufige Bariton-Inbrunst, kalkulierte Spannungsbögen, etwa in „des ganzen Winters Eis“, dominierten das Gesangsbild. Erst im „Lindenbaum“ schien Matthias Goerne bei sich angekommen zu sein, nahezu andächtig zelebrierte er das populäre Lied, intonierte mit feinen gesanglichen Nuancen. Die phänomenale Registerweite von abgründigen Basslagen bis zu lichten Tenorhöhen im „Irrlicht“ kostete Matthias Goerne mit kraftvollen dynamischen und intonatorische Akzenten aus. Mit der markanten, dunkel grundierten Fülle seiner Stimme überwand der Sänger so manche artikulatorischen Eintrübungen, ebenso locker begegnete er der zunehmenden Umnachtung seines sängerischen Erzähler-Ichs. Es zeigte sich als Naturbursche des Gesangs, als Handwerker und Wandersmann, so wie er Franz Schubert bei der Komposition vorgeschwebt haben mag. Da ging es schon mal deftig und temperamentvoll zu, wie in den zahlreichen dramatischen Exklamationen. Wie die Weltverlorenheit des Protagonisten in trotziges und sehr irdisches Aufbegehren umschlug, etwa in „Mut“, trug Goerne trefflich vor. Den dazu kontrastierenden Ton der Mutlosigkeit traf nahezu vollendet „Der Wegweiser“. Das grüblerische Selbst, die ungelösten Fragen des Zweiflers, die indirekt erneut anklingende Hoffnung und das scheinbar endgültige Annehmen des Schicksals kam anrührend, gedankenvoll, reflektierend zum Ausdruck. Brüchig, weitgehend „verrückt“, entrückt von den Menschen und der Natur ist das Ende des einsamen Rhapsoden. Kaum singbar erscheint die abgründige, mythische, fremde Szenerie des „Leiermanns“ - doch zum Beinahe-Stillstand der Klavierbegleitung singt Matthias Goerne die offene Frage „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn ?“ mit weichem, rundem Timbre - und die magische Zauberkraft von Text und Musik zieht die Zuhörer im Nikolaisaal erneut in ihren Bann. Eric Schneider ergänzte am Klavier die gesanglichen Eruptionen mit sensiblen, farbigen Klangfigurationen, etwa bei „Im Dorfe“, und klaren rhythmischen Kontrasten zwischen unermüdlichem Voranschreiten und stockendem Innehalten. Zwar gab es für den schauerlichen Weltschmerz keine Lösung, aber Matthias Goerne und Eric Schneider erhielten für ihre großartige Darbietung umso herzlicheren, sehr weltlichen Applaus.

Babette Kaiserkern

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