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Kultur: Ein geheimnisvolles Wort?

Prof. Wessel sprach über Humanontogenetik

Prof. Wessel sprach über Humanontogenetik Von Barbara Wiesener Humanontogenetik – ein Wort, das es eigentlich nicht gibt. Der Bildungsminister Brandenburgs, Steffen Reiche, hatte in die Landeszentrale für politische Bildung eingeladen. Zielgruppe waren Lehrer und Schulleiter der Stadt. Hinter dem geheimnisvollen Wort, das in keinem Wörterbuch auffindbar und vielleicht mit „Mensch - Sein - Entwicklungslehre" zu übersetzen ist, steht ein Wissenschaftler und ein winziges Institut der Humboldt-Universität Berlin. Der Minister stellte den Universitätsprofessor Karl-Friedrich Wessel vor, der eigentlich Kaufmann werden wollte und im Kartoffelhandel der DDR der 50er Jahre sich zunächst verdingte. Später wurde er Berufsschullehrer in Aschersleben. Und noch später studierte er Philosophie, politische Ökonomie und theoretische Physik. Als Philosophieprofessor der Humboldt-Universität unternahm er den Versuch, den Menschen als „biopsychosoziale“ Einheit zu denken und zu erforschen. Ein „unsauberes" interdisziplinäres Denken! Hierfür fand er Anfang der 80er Jahre an der Universität Verbündete: Mediziner und Soziologen. Und gründete ein Institut. Warum das Fachgebiet nicht mit einem gängigen schon vorhandenen Begriff benannt wurde? Anthropologie?, wollte der Minister wissen. Der Begriff „Anthropologie“ und seine Nähe zur Philosophie war in der DDR unerwünscht und verdächtig gewesen. Und so wurde ein neuer Begriff kreiert: Humanontogenetik. Eine Verbindung zwischen Philosophie, Medizin, Soziologie und Ontologie. Nur in dieser besonderen Verbindung wäre die „Eigenzeit“ des Menschen, der Mensch als Zeitwesen, als „homo temporalis“ zu denken. Wessel betonte, wie bedeutungsvoll für die Entwicklung des „homo temporalis" die pränatale und postnatale Zeit wäre. Dass diese Phase nur in einer engen Mutter – Kind – Beziehung verlaufen dürfte. Dass in dieser Phase der Vater ohne Aufgabe und Bedeutung sei. Wessel plädierte dafür, dass für die Früherziehung die am besten ausgebildeten und am besten bezahlten Pädagogen die Kinder betreuen sollten. Unter Berücksichtigung der „Eigenzeit" des Menschen sollten die Schulen über flexible Eingangs- und Ausgangsstufen verfügen. Der Bildungsminister konnte frohgestimmt auf bereits 100 Schulen im Land verweisen, die das Modell des flexiblen Eingangs praktizieren. Nach den wichtigsten zu vermittelnden Erfahrungen befragt, verwies Professor Wessel auf seine Erkenntnisse: lebenslanges Lernen, lebenslange sportliche Betätigung, lebenslanger Glaube. Die beste Anthropologie, so stellte er fest, sei die Weltliteratur. Allerdings sollten in Schulen „Pflichtlektüren“ vermieden werden, um einen lebenslangen Groll gegen die Literatur zu vermeiden. Sehr nachahmenswert fand Professor Wessel die Einrichtung von Bibliotheken und Leseräumen in Schulen, wie er sie in Amerika vorgefunden hätte. Durch den Rückgang der Schülerzahlen wären die räumlichen Möglichkeiten möglicherweise auch in Brandenburgs Schulen gegeben. Hier könnten Schüler in Freistunden, Pausen und Ferien lesen und kommunizieren. Der Minister verwies auf bereits erste Initiativen. Auch plädierte Wessel für eine Unterbrechung der Lehrtätigkeit der Lehrer nach 10 bis 15 Jahren durch eine einjährige Studienzeit. Der Perspektivewechsel wäre heilsam für Lehrer und Schüler. Andererseits könnte dadurch auch ein Lehrerüberschuss abgebaut werden. Das Sabbatjahr! Ein Stichwort für den Minister, das noch immer von wenigen Brandenburger Lehrern in Anspruch genommen wird. Was für den Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker als „furztrockene marxistische Esoterik" bezeichnet wurde, erwies sich im Gespräch zwischen Bildungsminister und „Humanontogenetiker“ als handfeste Handlungsanweisung für Lehrer, Eltern und Minister.

Barbara Wiesener

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