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Vor Gericht. Der erst 25-jährige Jonas Götzinger spielt in seiner ersten Rolle am Hans Otto Theater den Bundeswehrpiloten Lars Koch. Bernd Geiling den Vorsitzenden Richter.

© HOT/HL Böhme

Schirrachs "Terror" am Hans Otto Theater Potsdam: Die Weichensteller

Darf man 164 Menschen töten, um 70.000 zu retten? Das Stück "Terror" hat am Freitag am Hans Otto Theater Premiere. Das Stück „Terror“ von Ferdinand von Schirach hat am Freitag am Hans Otto Theater Premiere. Am Ende entscheidet das Publikum.

Potsdam - Alarmzustand in Deutschland: Ein islamistischer Terrorist hat über Berlin eine Passagiermaschine entführt. Das Leben der 164 Insassen steht auf dem Spiel, nein sogar von weiteren 70 000 Menschen. Denn als wäre die Entführung nicht schon dramatisch genug, will der Kidnapper die Maschine auch noch in der voll besetzten Allianz-Arena in München abstürzen lassen. Es bleibt nicht mal eine Stunde, um eine Entscheidung zu treffen. Aber was tun? Darf man die Flugzeuginsassen töten, um eine viel größere Zahl von Menschen zu retten? Das entscheidet in dem vom Strafverteidiger Ferdinand von Schirach geschriebenen Stück „Terror“ der Zuschauer – und damit auch über dessen Ende. Neben Deutschland bereits in fünf weiteren Ländern auf der Bühne, feiert das Schauspiel am morgigen Freitag am Hans Otto Theater (HOT) Premiere. Regie führt Andreas Rehschuh, der am Potsdamer Theater vor allem für seine Inszenierungen von Komödien bekannt ist.

Auch dem Zuschauer fällt es schwer, Partei zu ergreifen

Spektakuläre Szenen, wie sie die Entführung verheißen mag, wird man auf der Bühne allerdings vergeblich suchen. Einziger Schauplatz ist ein Gerichtssaal. Angeklagt ist Lars Koch, Kampfjetpilot der Bundeswehr. Er, vom erst 25-jährigen Jonas Götzinger gespielt, hat sich bereits entschieden, wie im Fall der Flugzeugentführung zu handeln ist – er hat die Passagiermaschine über einem Feld abgeschossen. Die Insassen: alle tot. Dafür muss sich Lars Koch vor Gericht verantworten, die Staatsanwältin wirft ihm Mord vor. Sein Verteidiger freilich fordert einen Freispruch. Und genau hier beginnt die Krux des Stücks. Staatsanwältin und Verteidigung liefern sich eine endlos scheinende Diskussion, die auf keine Einigung hinauslaufen kann. Die Fronten sind deutlich, miteinander unvereinbar. Hin- und hergerissen ob der scharfsinnigen Argumente, fällt es auch dem Zuschauer schwer, Partei zu ergreifen.

Allein, es muss eine Entscheidung her. Auf der Anklagebank sitzt ein Mensch. Ein „Dazwischen“ kann es nicht geben. Die einzig möglichen Optionen in diesem Fall sind laut unserem Strafgesetzbuch: Freispruch oder lebenslange Haft. Und diese Verantwortung über einen treuen Staatsbürger, der in edler Absicht handelte, Tausende Menschen rettete, gibt der Autor des Stückes in die Hand des Zuschauers. Abwägen muss der richtergewordene Gast das hehre Motiv des Offiziers mit dem Grundgesetz – vor allem mit der Menschenwürde. Der Mensch darf nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns werden, so sagen es die Juristen. Werden die Passagiere durch eine solche berechnende Abwägung zu Objekten, zu Zahlen, die gegeneinander abgewogen werden? Hätte Lars Koch geschossen, wenn seine Frau im Flugzeug gesessen hätte? Hätten die Passagiere ihren Entführer noch überwältigen können, bevor die Maschine in das Fußballstadion kracht?

Götzinger, der erstmals in Potsdam zu sehen sein wird und gleich die Hauptrolle des Piloten spielt, weiß um die Schwierigkeit seiner Figur. „Es braucht hohe Konzentration, diese Rolle zu spielen“, sagt er. Während der gesamten Aufführung müsse man gedanklich dabeibleiben – „in anderen, körperlicheren Stücken ist das nicht ganz so fordernd“.

70.000 oder 164?

70.000 oder 164? Kann man es sich so einfach machen? Die am Stück Beteiligten jedenfalls beschäftigten sich zwei Wochen lang „intensiv“ mit dieser moralisch tiefgehenden Frage, sagt Götzinger. Wie er sich selbst entscheiden würde, will er aber nicht verraten, um eine „größtmögliche Neutralität“ zu schaffen. „Wir versuchen, das Gericht in den Hintergrund treten zu lassen und ein Gedankenexperiment zuzulassen“, erklärt er.

Unter Rechtsgelehrten und Philosophen ist es ein altbekannter Fall, wie ihn auch von Schirach in seinem Stück anführt, der sogenannte Weichensteller-Fall: Ein führerloser Güterwaggon rast einen Berghang hinunter, in Richtung eines Gleises, auf dem Hunderte Menschen ein Fest feiern. Durch den heranbrausenden Zug würden sie alle sterben. Ein Mensch steht an einer am Gleis gelegenen Weiche und hat die Möglichkeit, diese umzustellen. In diesem Fall würde der Zug auf ein zweites Gleis geleitet und „nur“ drei Bauarbeiter töten.

Welche Auswirkungen hat der internationale Terrorismus auf unsere Gesellschaft?

Mit ihrem Votum beantworten die Zuschauer auch eine weitergehende, aber zugleich elementare Frage: Welche Auswirkungen hat der internationale Terrorismus auf unsere Gesellschaft? Verwerfen wir im Angesicht der terroristischen Bedrohung unsere Ideale? „Wir, die Bürger der westlichen Demokratien, müssen uns fragen, ob und in welchem Umfang wir das wollen“, sagt von Schirach.

Surreal jedenfalls ist das Szenario des Stückes keineswegs. Schon vor zehn Jahren beschäftige sich das Bundesverfassungsgericht abstrakt mit einem solchen Fall. Ein Flugkapitän und mehrere Rechtsanwälte, darunter die beiden FDP-Politiker Gerhart Baum und Burkhard Hirsch, hatten gegen die im Luftsicherheitsgesetz verankerte Abschussermächtigung geklagt. Die Karlsruher Richter entschieden, dass eine solche „mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig“ ist – der Menschenwürde wegen. Von Schirach aber löst diese Gerichtsentscheidung aus dem Abstrakten und schafft eine Bindung zum Angeklagten Lars Koch. Über sein Schicksal entscheidet der Zuschauer.

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„Terror“, Premiere morgen um 19.30 Uhr in der Reithalle. Weitere Vorführungen am 22. und 27. Oktober, am 1., 13. und 25. November. Eine Verfilmung des Stückes mit Martina Gedeck und Lars Eidinger ist am Montag, 17. Oktober, um 20.15 Uhr in der ARD, mit Live-Abstimmung, zu sehen. Der Film läuft vorab am Freitag im Babelsberger Thalia Kino um 20 Uhr.

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