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"Kruso" am Hans-Otto-Theater: Die verlorene Seite des Daseins

Wie der Schweizer Regisseur Elias Perrig das Stück "Kruso" von Lutz Seiler auf die Bühne des HOT bringen will – und warum Freiheit nicht immer eine Frage des Systems ist. Eine Begegnung.

Manchmal, sagt Elias Perrig, erinnert ihn Potsdam an seine Schweizer Heimatstadt Luzern. Der Tourismus, die Ruhe, ein unübersehbarer Wohlstand. Dass dieses wohlhabende Potsdam nur eine Seite der Stadt ist, weiß er. Aber es ist die Seite, die er am besten kennt, denn die Wohnung, die das Hans Otto Theater ihm für die Dauer seiner Arbeit zur Verfügung stellt, liegt in der Seestraße. Von hier scheint Babelsberg weit weg, der Schlaatz sowieso. Wenn Elias Perrig abends also um die schöne Seestraße herum spazieren geht, kommen ihm die Häuser wie Kulissen vor. Dann kommt es vor, dass er sich fragt: Bin ich hier in Disneyland? Dann spürt er hier etwas Unwirkliches, vielleicht sogar: etwas Totes. Leben die Leute wirklich hier, arbeiten sie hier?, fragt er sich. Oder kommen sie nur abends? Dann wäre Potsdam tatsächlich das Schlimmstmögliche: eine Schlafstadt.

Weg aus der Schweiz - in Potsdam gelandet

Elias Perrig ist eigentlich kein Provokateur. Im Gespräch genauso wenig wie als Regisseur. Elias Perrig überlegt, bevor er spricht, formuliert präzise. Strahlt auch kurz vor der heutigen Premiere seiner neuen Arbeit in Potsdam, dem „Kruso“ nach Lutz Seilers preisgekröntem Roman, eine Ruhe und Konzentration aus, als gäbe es kein Übermorgen. Elias Perrig schießt nicht nur nie ins Leere, er schießt gar nicht. Wenn er trotzdem trifft, wie mit seiner Beschreibung Potsdams, dann, weil er etwas erkannt hat, das ohnehin da war. Denn Elias Perrig ist ein sehr genauer Beobachter. Luzern empfand er immer als künstlich, von dort wollte er nach dem Abitur schnellstmöglich weg. Als es soweit war, ging er mit wehenden Fahnen. Nach Basel, nach Zürich. Dann nach Deutschland, nach Lübeck, Kassel, Stuttgart. Um dann, Ironie des Schicksals, in Potsdam wieder auf die Schweiz zu treffen.

Elias Perrig benennt, was er sieht, sagt aber auch: Ich weiß, dass ich nicht alles sehe. Vielleicht rührt daher die Klugheit seiner Inszenierungen. Er ist kein Regisseur, der sich in den Vordergrund drängt, der glaubt, einem Text seine Weltsicht, sein Ego aufdrücken zu müssen. „Das nimmt sogar mit der Zeit immer mehr ab“, sagt der 1965 Geborene. „Je älter ich werde, desto weniger Geduld habe ich für den falschen Zauber im Theater.“ Und zum falschen Zauber zählen für ihn eben auch: Showelemente, Einfälle, die eine genialische Größe des Regisseurs behaupten, oder das, was man visionären Pomp nennen könnte. Den Versuch, alles im Theater auf Teufel komm raus neu zu erfinden. Stattdessen: uneitle, ungeteilte Konzentration auf das, was der Text eigentlich sagt. Das rückt die Vorlage wieder ins Zentrum der Regiearbeit, was lange verpönt war im Theater. Mit „Das schwarze Wasser“ von Roland Schimmelpfennig hat Elias Perrig gezeigt, wie so eine ungeteilte Konzentration auf den Text im Idealfall aussehen kann: unangestrengt, fokussiert, darstellerisch ausgefeilt und stark.

Überall hin und alles kaufen dürfen, kann sich unfrei anfühlen

Beim „Schwarzen Wasser“ funktionierte, was sich Elias Perrig für Theater wünscht: Das Stück war noch nicht vorbei, als es vorbei war. Die Fragen des Stücks – wie frei der Einzelne ist, wie abhängig von seiner Herkunft – hallten nach. Um Herkunft, mehr noch um Freiheit wird es auch in „Kruso“ gehen, der fünften Potsdamer Arbeit Perrigs, die heute Abend Premiere hat. Lutz Seilers Roman „Kruso“ handelt von einer Gruppe von literaturinfizierten Saisonkräften, die im Sommer 1989 im DDR-Urlaubsparadies Hiddensee die Kneipe „Klausner“ am Laufen halten. Eine Gruppe von Ausgestoßenen, die jenseits der Staatsideologie ihre eigene Welt nach eigenen Regeln aufgestellt haben. Dazu gehört, dass sie andere Ausgestoßene, Ausreisewillige, nach Kräften unterstützen. Guru der Gruppe ist der Tellerwäscher Kruso, in Potsdam wird Raphael Rubino ihn spielen. Kruso nimmt den Germanisten Ed (Holger Bülow) unter seine Fittiche, versucht ihm beizubringen, was das ist, Freiheit. Bis der 9. November kommt und der Freiheitsbegriff plötzlich ausdefiniert scheint. Das ist das Ende – von Kruso, vom „Klausner“, von dem, was sie versuchen.

„Kruso“ ist kein Wenderoman, und Elias Perrig wird ihn nicht als solchen inszenieren. Die DDR ist für ihn die historische Folie, die unter der Geschichte liegt, nicht mehr. Sie wird nicht ignoriert werden, aber es wird nicht den Versuch geben, das Hiddensee des Jahres 1989 auf der Bühne wieder auferstehen zu lassen. Im Mittelpunkt steht etwas anderes, „etwas Zeitloses“, wie Elias Perrig sagt. Das Paradoxe nämlich, dass sich auch eine Freiheit, in der alle überall hin und alles kaufen dürfen, sich unfrei anfühlen kann. Und die Frage: „Ist Freiheit eine Frage des Systems, in dem wir leben, oder etwas, was eigentlich jeder Mensch für sich selbst immer wieder neu suchen muss, egal in welchem System?“ Um dem theatral auf die Beine zu helfen, werden bei Perrig die Zuschauer zu „Schiffbrüchigen“. Das sind in „Kruso“ jene vom System Ausgespuckten, die bei der Besatzung des „Klausners“ auflaufen, um dort einen Moment der Ruhe zu finden. Bevor es dann wieder weiter geht, übers Meer in Richtung Schweden. Oder, im Fall des Potsdamer Publikums, zurück in den Alltag.

Eine Gesellschaft ohne Hierarchien

Wenn alles gut geht, wird „Kruso“, wenn er nach den Inszenierungen in Gera und Magdeburg jetzt auch in Potsdam auf die Bühne kommt, also doch auch zu einem Nachdenken darüber ermuntern, was die DDR, diese „historische Folie“, die von vielen im Publikum eine konkret erlebte war, mit den Menschen gemacht hat. Die Frage wäre: Ist Krusos Utopie nicht die Urform jener Utopie, der die „Klausner“-Besatzung entkommen wollte? Die konkrete Arbeit als Ideal, eine Gesellschaft ohne Hierarchie? Ja, das ist es, sagt Perrig. Und zitiert, was Kruso einmal sagt: „Die Aufgabe des Ostens wird es sein, dem Westen einen Weg zu zeigen. Zur Wurzel, zur verlorenen Seite des Daseins.“

„Kruso“ hat heute um 19.30 Uhr im Hans Otto Theater, Schiffbauergasse, Premiere.

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